Noch leben ...

                Es klingt sicher makaber, wenn dieser Vergleich angestellt wird. Aber es ist eben so in der Welt, in welcher Tod und Leben so dicht beieinander existieren.

        Wir waren beim Kardiologen in Kiew, die meiner Natascha besser zu ihrem leicht lädierten Organ passende Medikamente verordnete. Es hatte sich herausgestellt, dass ihr Kollege vor Ort leider zu jenen Ärzten gehört, die den Titel auch führen...

        Meine Gute schlug vor, bei der Mutter unserer Freundin eine Art Abschiedsbesuch zu machen. Sie liegt unheilbar daheim, um ihre Tage würdevoll in bekannter Umgebung zu beschließen. Für mich erstmalig der Besuch bei einer etwa Gleichalterigen, allerdings sie in einer Situation, mit der wir alle gewöhnlich sehr schlecht umgehen können. Wissen, dass auch du eines Tages von der Welt gehen wirst - und eine Bekannte zu besuchen, der das unmittelbar bevorsteht - das sind sehr unterschiedliche Befindlichkeiten.
        Maria, familiär Tante Mascha genannt,lag mit geschlossenen Augen auf der linken Seite. Sie erfasste, dass wir gekommen waren. Wir fragen nicht, wie es ihr geht, sondern sagten nur, wir wären zu Besuch da. Mit der arbeitsamen, bescheidenen Frau hatte ich immer ein gutes Verhältnis. Deshalb strich ich ihr zart über die Wange. Die langsame Geste mit der rechten Hand - eine Art "sich an mir festhalten wollen" - war die einzige Reaktion. Ich flüsterte ihr ein "Gute Nacht!" zu - mehr gab die Stimme nicht her...

        Am folgenden Morgen traf ich beim Spaziergang mit Hund einen frisch verliebten Rentner. Einer von jenen, der wie ich in Bewegung  die Bremsung der Altersprozesse sucht. Getreu der Formulierung: "Wir bewegen uns nicht träger, weil wir altern, sonder weil wir uns träger bewegen, werden wir rascher älter."
        Er stellte überraschend die Frage: "Hast du heute schon in den Spiegel geschaut?"
        Weil ich nicht so eitel bin und noch nicht rasiert war, habe ich das verneint. Aber interessiert hat mich der Grund für die Frage schon.
        "Wenn ich morgens in den Spiegel schauen kann, lebe ich noch und bin beweglich!" war seine Antwort. "Das ist für mich ein Grund, mich zu freuen." Recht hat der Mann.

        Auf dem Rückweg in Nähe der Brücke belästigten zwei kleine Welpen ihre Mutter, deren Gesäuge eindeutig leer war. Die beiden habe ich schon längere Zeit beobachtet. Einer läßt beständig den Schwanz hängen, ist offensichtlich krank, wird den Winter nicht überleben. Die streunenden Hunde sind ein Problem - und Opfer des Verkehrs. Am vorherigen Abend sah ich den Kadaver eines gerade erst überfahrenen mittelgroßen hellen Hundes an der Allee, durch die unser Abendspaziergang führt. Kai beschnupperte die Überreste kurz, lief weiter. Unangenehm, dass die Stadt das Problem nicht nach dem Beispiel von Prag in den humanistischen Griff bekommt.

        Wir leben noch!

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





       

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen