Ein Hundeleben


           Das war gestern, beim Morgenspaziergang. Im Halbdunkel, dem so genannten Morgengrauen. Die Gruppe der eine läufige Hündin verfolgenden Rüden auf dem gegenüber liegenden Fußweg hatte ich schon gesehen, als wir auf den Mittelstreifen der Allee eingebogen waren. Ich hatte sofort meinen Kai wieder an die Leine gelegt, damit er sich nicht auch in einem Anfall von Vermehrungswut mit der Meute davonmachte. Sie rannten wie üblich ungeordnet durcheinander, sich ab und zu untereinander beißend. Um derjenige zu sein, der die Art fortpflanzen darf – wenn er sich durchsetzt. So erneut herrenlose Welpen in die ukrainische Wirklichkeit zu entlassen.
               Kurz vor einem relativ langsam fahrenden Oberleitungsbus rannte die Gruppe über die Straße auf den Mittelstreifen. Sie konnte den diesen Bus  überholenden PKW nicht sehen. Der Fahrer wohl auch nicht die Hundemeute. Den letzten und wahrscheinlich auch kleinsten  erwischtes es. Ein typischer „weicher“ Knall, der helle Hundekörper segelte sich überschlagend durch die Luft. Das Tier kam überraschend schnell auf die Beine und raste – wahrscheinlich unter Schock – genau entgegengesetzt wieder über die Straße.
              Eine ähnliche Situation hatten wir vor etwa 10 Jahren kurz vor der polnisch-deutschen Grenze erlebt, als am hellen Tag ein Hase auf diese Weise durch einen heimischen PKW ums Leben kam. Wir sind auf Wunsch meiner Frau ein Stück zurück gefahren, haben das Wildbret in eine große Plastiktüte getan und nach Deutschland illegal eingeführt. Abgehäutet, ausgenommen, abhängen lassen. Der Braten in Sahnesoße war großartig.
              Wegen dieses Erlebnisses war ich sicher, dass der angefahrene Rüde keine Chance hatte. Am heutigen Abend fanden wir unbeabsichtigt seinen Kadaver. Der wird morgen früh durch die Straßenfeger mit in den Müll und so auf die Kippe am Rande der Stadt kommen. Das Schlimmste an den streunenden Hunden in der Stadt: sie sind mit Grund für Verkehrsunfälle.

               Als ich meinem Bekannten, dem alten Seemann, das Erlebnis berichtete, bekam ich in Kurzfassung eine besondere Geschichte zu hören.
             Ihr Schiff war vor der englischen Küste in Seenot geraten. Ihm hatte man in einem Hafen einen Welpen geschenkt, den der Kapitän und die Mannschaft an Bord zu lassen sich entschlossen. Als das Kommando zum Verlassen des Schiffes kam, hatte er als Chefmechaniker Dienst an der Maschine. Er befolgte das Kommando sofort, stolperte aber fast über den Hund, der an der Treppe auf dem Rücken liegend schlief. Er griff sich das Tier, wegen dem er sonst nie das Schiff abgesucht hätte und nahm es mit ins Rettungsboot.
             Die Verhandlung vor dem Seegericht in England war sehr gründlich. Jeder musste zu Protokoll geben, was er getan, unterlassen, gehört und gesehen hatte. Da sagte ein Matrose, der Chefmechaniker sei erst vor dem Kapitän von Bord gegangen, weil er noch den Schiffshund gerettet habe. Die anderen bezeugten das.
              Nach etwa einer Woche bekam er – mein Bekannter – einen Brief von der englischen Königin. Sie ist wohl die Schutzherrin der englischen Tierschutzvereine. In dem Schreiben wurde ihm ihr Dank für die Rettung des Hundes ausgesprochen. 
             Als ich Pjotr Nikolajewitsch bat, mir bei Gelegenheit diesen Brief zu zeigen, wurde er etwas stiller. Dann sagte er mir: „Wir sind einmal abgebrannt. Da haben wir an anderes als an aufbewahrte Post gedacht.“ Weil sich niemand so eine Geschichte ausdenkt und ich ihn als eine ehrenwerte Person kenne, glaube ich unbesehen.
              Was alles mit einem Hundeleben verbunden sein kann.  

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen