Erneut Odessa...

Es war eine sehr kurzfristige Entscheidung. Wegen privater Angelegenheiten erneut unsere Freunde in Odessa zu besuchen. Per Überlandbus in sechs Stunden zu erreichen. Der mit 15 Minuten Verspätung in Belaja Zerkow ankommende Bus konnte diese Zeitdifferenz bis zur Ankunft mühelos beibehalten.

Ein junger Mann in Uniform, deutlich erkennbar als von der "Ostfront" kommend, wurde nach Abfahrt von unserer ersten Raststelle mit 10 Minuten Pause sichtlich unruhig. Dann entnahm er seinem Rucksack ein Tablet, schaltete das auf "Navigation" und bekam unsere Bewegung auf der Trasse angezeigt. Nach geschätzt etwa 20 Minuten klappte er es zusammen, schob es in den Rucksack, schnallte jenen auf den Rücken. Danach holte er aus der Gepäckablage einen Strauß Rosen. Wenige Augenblicke später bremste der Busfahrer. Im Nieselregen stand ein junges Mädchen an einer Bushaltestelle, welches den jungen Mann nach dem Aussteigen liebevoll umarmte. Beide standen in dieser Haltung noch lange, nachdem der Bus wieder angefahren war. Schön für beide...

Bei Annäherung an Odessa wurde die Schneedecke auf den Feldern immer gleichmäßig geschlossener. Als wir in die Stadt einfuhren, waren die Spuren der vor einiger Zeit aufgetretenen extremen Verwehungen noch deutlicher zu sehen. An den Straßenrändern Schneehaufen von bis zu eineinhalb Metern Höhe, in ihrer Nähe nicht selten riesige Pfützen. Dirk, der mich mit Tanya getroffen hatte, scherzte in der Nähe des von ihnen mit bewohnten Hauses: "Hier sehen sie die Odessaer Seenplatte." 

Im Zusammenhang mit dem jungen ukrainischen Militär und dem gestrigen Datum erinnerte ich mich: an diesem Tag habe ich vor genau 70 Jahren meinen Vater, er damals Ausbildungsoffizier bei der deutschen Wehrmacht, ein letztes Mal gesehen. Am nächsten Tag vor eben dieser Zeit begann am 20. Januar 1945 unser aller Flucht aus dem damaligen Warthegau "heim ins Reich". Mein jüngster Bruder war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Hoch auf einem Leiterwagen, bei minus 20 Grad Celsius. Wir hatten Glück, kamen mit Hilfe eines Bekannten nach einiger Zeit auf der Ladefläche eines mit Plane geschützten LKW an allem Leid vorbei in die Nähe von Berlin. Die Flüchtlinge aus dem Donbass sind mir deshalb psychologisch nahe.

Gestern war in der Ukraine für alle orthodoxen Christen das, was die Christen in Westeuropa als Epiphaniastag feiern: die Erinnerung an die Taufe des Jesuskindes. Also gehen viele Leute "Eisbaden", werden anschließend von einem Priester gesegnet. Unsere Freunde fuhren mit mir in die Nähe eines in Odessa bekannten Männerklosters, wohin wir dann über schneematschige Straßen und durch Pfützen gingen, um "geweihtes Wasser" zu holen. Vier Sechs-Liter-Flaschen voll - gleich mit für unabkömmliche Verwandte. Angeblich heilkräftig. Für mich in der Art von Placebo verständlich. Auch sehr wohlschmeckend, wie mir ein großes Glas voll zur Probe bewies. 

Interessant war im Kloster die "neue Kirche" - ein ästetisch gut gelungener Kultbau, der innen bei mir keine düstere Bedrückung hervorrief wie die "alte Kirche", sondern mit ins Helle aufstrebenden Linien eher geeignet scheint, die christliche Auferstehungsidee zu verkörpern. Ich bedankte mich bei Tanya, dass sie mich dazu angeregt hatte, in dieser Kirche einige Minuten zu verweilen. Weil auch so seltene Baukunst-Erlebnisse das Leben bereichern.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





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