Lange habe ich überlegt, wie ich
eine für mich wesentliche Überlegung der letzten Wochen formulieren solle. Wir haben
in Odessa auf der meernah gelegenen Datsche unserer Freunde eine ganze Woche
verbracht. Der Stadtteil von Odessa, in welchem sie steht, heißt heute
Tshernomorka, war früher als Lustdorf mit vorwiegend deutschen Einwohnern (ehemaligen
Schwaben) bekannt.
Der Aufenthalt dort war durch informatorische Diät
gekennzeichnet – Radio, Fernsehen und Internet fehlten vor Ort. Der nahe Strand
war sandig und recht breit, allerdings nicht einfach zu erreichen vom
Steilufer. Für mich wegen meines invaliden linken Knies, für meine Frau wegen
der für ihre Größe ungerechtfertigten Masse.
Der Urlaub war leider überschattet
durch den Tod der Mutter unserer Freundin. Mir hat die von Störungen freie Zeit
Anlass geboten, einen Gedanken zu verfolgen. Vor Jahren schon hatte ich meinen
Moskauer Arzt-Freund nach dem Sinn menschlichen Lebens gefragt. Er antwortete
sehr eigenwillig: „Den kenne ich nicht. Er muss im Leben selbst begründet
liegen. Denn ich hatte schon blutige Fleischklumpen auf dem OP-Tisch, die mich
bettelten – Doktor, gib mir noch fünf Minuten. In dem Versepos „Pilgrime“ gibt
es eine mich befriedigende Antwort: Leben ist eine Fata Morgana und der Weg zu
ihr.“
Mir scheint, dass der lange Kampf vieler gegen ihr Ende aus dem Wunsch
gespeist wird, diese Erde nicht zu verlassen. Aus dem Wissen darum, dass wir aus
der Ewigkeit Zukunft kamen und in die Ewigkeit Vergangenheit eingehen. Dass der
winzige, unser Augenblick zwischen den Ewigkeiten etwas unsagbar Einmaliges ist
– wie auch wir selbst. Das bewusst aufzugeben, loszulassen scheint mir das
Ungeheuerliche, unsagbar Schwere am menschlichen Sterben.
Deshalb versuche ich
auch aktiv, meinen eigenen Abschied hinauszuschieben. Dadurch, dass ich alles
mir bekannte zur Gesundheitsvorsorge nutze. Abhärten, altersgerecht viel bewegen,
genügsam essen. Nach Möglichkeit mit vielen vernünftigen Leuten reden, lachen.
Erst
vor einigen Tagen hat mir einer meiner ukrainischen Freude einen Artikel geschickt.
Über die Gründe japanischer Langlebigkeit. Der Autor hat als hervorstechendste
Eigenschaft japanischer Menschen die anerzogene Fähigkeit zur Vermeidung
schlechter Laune, von kleineren oder größeren Konflikten zwischen einzelnen und
Gruppen hervorgehoben. Damit ist die Stabilisierung positiver Grundeinstellung
verbunden. Das an Bodenschätzen bettelarme Japan hat mit dieser Einstellung zum
Leben und dessen Grundlage, der Arbeit auf hohem qualitativem Niveau den Weg
mit an die Spitze der gutsituierten Völker geschafft.
Deswegen ist mir heute
verständlich, was vor Jahren ein russischer Gerontologe schrieb. Ein Japaner
von 102 Jahren hatte auf dessen Frage nach dem Grund seines Alters geantwortet: „Für
mich ist das Leben noch interessant. Wenn es mich einmal nicht mehr interessieren
sollte, drehe ich mich auf meiner Schlafmatte zur Wand und bin in einer halben
Stunde tot.“
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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