Fernfahrt I



Als mich am 04.11.2015 der Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens aus Deutschland anrief, erkundigte er sich nach meiner Gesundheit. Wir sind seit längerem auch befreundet, so dass ich erfreut und wahrheitsgemäß meine positive Auskunft gab. Er war zufrieden und kam danach zur Sache. Ob ich seiner Montagemannschaft aushelfen könne. Ihr in Moskau lebender deutscher Dolmetscher sei erkrankt – die sprachliche Betreuung der Montage einer mir bekannten Spezialmaschine sei unbedingt erforderlich. Ob ich ihnen aushelfen könne. Wer mit 78 Jahren ein solches Angebot bekommt, das ihn aus dem Rentneralltag reißt, sagt zu. Vor allem mit meinem Charakter. 
Wir verabredeten die Voraussetzungen. Am folgenden Nachmittag bekam ich von seiner Sekretärin die Reservierung eines Hotelzimmers in Moskau und das elektronische Ticket der Flugreise Moskau-Bugulma (Tatarstan) und zurück per e-mail. Meine Frau besorgte unverzüglich eine Fahrkarte zum 07.11. für einen Nachtzug Kiew-Moskau, da mit dem 25.10.2015 der Flugverkehr Ukraine-Russland eingestellt worden war. 
Am 07.11. war in der Frühe mein Blutdruck extrem niedrig. Mein Freund Dirk aus Odessa gab mir als Arzt einen Hinweis, nachdem er meine Verzehrgewohnheiten erfragt hatte. Ich solle erst rasch eine Tasse starken Kaffee trinken, aber über den Tag viel mehr Wasser als sonst. Seine Auffassung: Tee und Kaffee dürfe ich nicht in die tägliche Flüssigkeitsbilanz einrechnen, da beide harntreibend seien. Deshalb zeigte ich Symptome von Wassermangel (Dehydratation). Nachmittags, vor der Abfahrt, war der Blutdruck dank dieses Tipps wieder normal. 
Am Hauptbahnhof von Kiew gerieten wir zufällig in eine Aufnahme zu einem Fernsehbericht, dem Abbruch der Flugverbindung und der damit verbundenen erhöhten Nachfrage nach Zugverbindungen gewidmet. Natascha und Pavel sahen diese Sendung und uns life – aus einer Zusammenfassung nach einer Woche, als ich wieder daheim war, hatte man uns der Kürze wegen schon  herausgeschnitten. 
Diese Nacht im Liegewagen habe ich schlecht geschlafen – die Matratze war recht dünn. Die Grenzkontrollen waren moderat, hatten keineswegs die erwartete Spannung aus den militärpolitischen Ereignissen zwischen beiden Staaten. 
Gegen zehn Uhr Moskauer Zeit kamen wir am Kiewer Bahnhof an. Der Taxifahrer war beflissen, hatte im Fahrzeug einen Navigator und kassierte auf Berlins Niveau. 
Im günstigen Einbettzimmer des georderten kleinen Hotels war es recht gemütlich – sieht man vom Ausblick auf einen Hinterhof ab. Nach Verstauen und Rasieren ging ich ins nahe gelegene Einkaufszentrum, besorgte den beeline-Chip für mein Handy. Dann informierte ich Natascha, dass ich gesund vor Ort sei und rief bei Viktor an, meinen Besuch verabredend. 
Nachmittags fuhr ich per Metro und Bus zu meinem Freund Viktor Wassiljewitsch, der mir vor 45 Jahren nach einem Unfall die gering eingeschränkte Beweglichkeit meines linken Knies mit meisterhafter Operation gerettet hatte. Nach seinem Schlaganfall vor einigen Monaten ist der 90-jährige geistig voll da, allerdings motorisch leicht eingeschränkt. Die Aufnahme meiner Knieprothese hat er wohlwollend mit der Bemerkung betrachtet: „Die deutschen Kollegen haben dir Gutes angetan.“ 
Nach angeregter Unterhaltung, an der seine Tochter und seine alte Freundin aus St. Petersburg teilnahmen, verabschiedete ich mich. Nach unserer Umarmung sagte er leise „Auf Wiedersehen!“ und zeigte mit der linken Hand zum Himmel. Beinahe hätte ich auf diese Prophezeiung mit den Worten geantwortet: „Ich als alter Sünder komme gewiss in die Hölle.“ – was ein Wiedersehen ausschließt, wenn es sie wirklich gibt. Aber gut, dass ich mir manchmal erst überlege, was ich sagen will. Zusätzlich bremste mich, dass ich mir erst die ungewohnten Worte aus meinem russischen Wortschatz herausfiltern musste. 
Diese Nacht schlief ich sehr gut. Am Folgetag und einem etwas eigenartigen Frühstück begab ich mich nach Auschecken per Aviaexpress, einer günstigen und recht komfortablen Schnellverbindung, zum größten Moskauer Flughafen – Domodedowo. Fortsetzung folgt.

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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