Wes Herz voll ist...



„Wes Herz voll ist, dem geht der Mund über.“ lautet ein altes deutsches Sprichwort. Deshalb einige Zeilen. 
Vorgestern sah ich beim Morgenspaziergang einen haltenden Mercedes-PKW mit deutschem Nummernschild. Da sich unweit eine größere Bushaltestelle befand, meinte ich, dass Landsleute dort um eine Auskunft baten. Also überquerte ich die Straße, um meine eventuell weitergehende Hilfe anzubieten. 
Die drei Frauen, welche ausgestiegen waren und neben dem Fahrzeug standen, unterhielten sich auf Russisch. Vorsorglich grüßte ich also auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch. Fragte, ob ich behilflich sein könnte. Eine antwortete, dass ihr Mann soeben mit einem in der Nähe wohnenden Freund telefoniere und dankte mir. Danach fragte ich auf Deutsch, woher sie denn kämen, weil mir wegen langer Entwöhnung das Kennzeichen am Auto unbekannt sei. 
Mit der Auskunft „Saarbrücken“ bekam ich in Deutsch mit deutlicher slawischer Aussprache die mir erstmalig im Leben gestellte Frage nachgereicht, wo ich mein akzentfreies Deutsch gelernt hätte. Nach der etwas erstaunt aufgenommenen Erklärung – ich bin schon mehr als 21 Jahre im Land – rief ich den Hund zu mir. Auf das „Kai bei Fuß“ folgte Gelächter. Denn zufällig heißt der mir noch unbekannte deutsche Freund der Familie hier in Bila Tserkva ebenfalls Kai. Wir verabschiedeten uns guter Laune voneinander. 

Heute nun war der Morgen voller Erlebnisse. Zuerst sah ich die Bachstelze, von welcher ich schon schrieb. Das mit ständig wippendem Schwanz hüpfende Vögelchen macht auf mich den – vermenschlichten – Eindruck, als ob es ständig fröhlich wäre. 
Dann kam uns eine sehr runde, obwohl noch junge Frau entgegen mit einem gutmütigen weißen Hund unbestimmter Rasse, dessen beide wie beim Spitz hochstehenden Ohren in der oberen Hälfte rot sind. Dazu hat er über dem rechten Auge einen ebenfalls roten großen Fleck, so dass er ein wenig an den Seeräuber Flint erinnert – mit der schwarzen Augenklappe. Mit Kai gab er sich nur kurz ab, kam aber dafür zu mir. Er mag meine Streicheleinheiten hinter den Ohren und unter dem Kinn besonders. Seine Herrin gönnt ihm das Vergnügen. 
Etwa 80 m weiter überquerte ein Ehepaar mit zwei gutmütigen Alabai-Hunden die Straße. Kai war nahe dran und beschnupperte die Hundedame ausgiebig. Wir kennen die Tiere und ihre Besitzer schon längere Zeit. Sie hatte es offensichtlich eilig, denn sie warteten diesmal nicht auf mich. 
Dafür bekam ich eine außerordentliche Überraschung. 
Per Fahrrad kam Julia auf uns zu, ihren schwarzen gutmütigen Schäferhund Balu angeleint daneben. Wir kennen die etwa 25-jährige schon länger. Sie hat mit ihrem Nachbarn, einem älteren Juristen, am Fluss ihren und dessen Hunde spazieren geführt. Hatte sie etwa ein halbes Jahr nicht gesehen. Sie ist groß, schlank, sehnig, mit einem sehr interessanten Gesicht. Julia hielt an: „Schön, sie gesund zu sehen. Guten Morgen!“ Ich erwiderte den Gruß, drückte meine Freude über die unverhoffte Begegnung aus. Fragte, wohin sie wolle – während Balu erst Kai, dann mich beschnüffelte. Sie arbeite woanders – aber im Gestüt, wo sie einst tätig war, hat man sie in der Urlaubszeit um Hilfe gebeten. Deshalb sei sie am Wochenende dort. Wir tauschten danach noch einige Informationen aus. Sie schaute auf ihre Uhr. „Entschuldigen sie – ich möchte nicht zu spät kommen. Auf Wiedersehen.“ Sie beugte sich zu mir, zog mit einer überraschenden Bewegung meinen Kopf näher zu sich und küsste mich auf die Wange. 
Da es bisher noch nie Vertraulichkeiten zwischen uns gegeben hatte, war ich wie vom Blitz getroffen. „Julia, was war das?“ „Sollten sie mit ihrer Lebenserfahrung doch wissen. Wenn ich sie sehe, muss ich lächeln – danke.“ Sie fuhr winkend weiter. 
Bei mir kehrte eine unwiderstehliche Freude ein. Diesen Post schreibe ich am späten Nachmittag. In bester Stimmung. Danke, Julia! 
Meine Natascha bemerkte nach meinem Bericht: „Soso, in deinem Alter noch Liebhaber junger Mädchen spielen. Mache mal so weiter.“ Lächelte dabei verständnisvoll. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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