Schon längere Zeit
sehe ich beim Morgenspaziergang mit Hund einen Blinden. Er überquert mit weißem
Spazierstock und Gehör recht sicher die beiden Fahrbahnen und den
Mittelstreifen der Allee. Die zur Vermeidung von Zeckenbefall bei Hund Kai an
Stelle der Flussaue seit diesem Frühjahr unsere Spazierstrecke ist.
Der etwa
60-jährige Mann ist immer ordentlich gekleidet und bewegt sich äußerlich
sicher. Die Allee überquert er rasch – das Gehabe vor allem jüngerer Ukrainer
(hier am Übergang für Fußgänger bestimme ich, wie lange Kraftfahrer warten
müssen) ist ihm fremd.
Heute in der Frühe habe ich mir ein Herz gefasst, bin
auf seine Straßenseite gewechselt, wo er auf einen Marschroutenbus wartete.
Habe ihn höflich angesprochen und gefragt, seit wann er seinen Gesichtssinn
verloren hat. „Seit dreißig Jahren.“ Nachdem ich ihm alles Gute gewünscht
hatte, sind wir mit Hund Kai weiter auf dem Mittelstreifen spaziert – unsere täglichen drei
Kilometer zu vollenden.
Es war Zeit zum Nachdenken. Wie gut es mir, wie gut es
uns allen geht, die ihre gesunden Sinne zur Verfügung haben. Recht hatte der
Meister Eckhard vor rund 800 Jahren mit seinem Satz: „Willst du getröstet
werden, so vergiss derer, denen es besser geht und denke immer an die, denen es
schlimmer ist.“ Wie muss es gewesen sein, als es um genannten Mann herum immer
grauer und dann schwärzer wurde? Wann kam die Erkenntnis, dass für ihn
ärztliche Hilfe nicht mehr zu erwarten ist? Wenn ich den Blinden in den
nächsten Tagen wieder sehe, werde ich ihn fragen, ob er zur Arbeit fährt – nur
so ist vorerst seine für mich deutlich sichtbare Pünktlichkeit zu erklären.
Auf
dem Rückweg war Kai sehr weit vorgeeilt. Der gut erzogene Hund kann nicht gegen
den Ruf der Natur an – der Duftspur läufiger Hündinnen muss er folgen. Wenn
jene die Straße überquert, bricht er die Suche jedoch ab und sucht Herrchen.
Eine ältere Frau grüßte mich und fragte, ob ich meinen Hund nicht vermisse, den
sie weit weg von unserem „Treffpunkt“ gesehen habe. Ihr erklärte ich, dass
Erziehung von klein auf und die Gewöhnung ans Futter zwei Bedingungen wären,
welche unser Kai so fest verinnerlicht hat, dass ich mir um seine Rückkehr zu
mir keine Sorgen mache. Wie auf Bestellung kam der Hund laut hechelnd aus dem
Gebüsch der Allee herausgelaufen.
Es stellte sich heraus, dass die Dame Russischlehrerin
ist, genauer vor Pensionierung war. Sie fragte danach, wo ich so gut diese Sprache
gelernt hätte. Trotz des Akzents wäre die Erklärung zum Verhalten unseres
Hundes sachlich richtiger gewesen, als mancher hiesige Einwohner es formulieren
würde. Da konnte ich einbringen, was uns der Lehrstuhlleiter Russisch an der
Akademie in Moskau mit den Worten eines russischen Schriftstellers aus dem 19.
Jahrhundert geraten hatte: „Man lernt die Sprache eines Landes am besten auf
dem Kopfkissen seiner Mädchen.“ Sie war verdutzt – aber ich konnte hinzufügen,
dass ich dank dieser Empfehlung lange Jahre mit einer Russin verheiratet war. Es
war zu sehen, dass ich so meinen Ruf als ehrlicher Mann in ihren Augen wieder
herstellen konnte.
Beim Abendspaziergang traf ich Pjotr Gershan wieder – einst militärischer
Chef einer größeren Bautruppe, der hier in der Stadt recht umfangreiche
Bauvorhaben geleitet hat. Wir verabredeten uns auf ein ruhiges Treffen entsprechend
dem Zeitplan seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen
Tätigkeit, in welche er mich vielleicht einbeziehen will. Bin gespannt.
Bleiben Sie recht
gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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