Diese meine
Weihnachtsgeschichte begann vor 72 Jahren, Ende November 1944. Unsere liebe
Mutti fuhr mit uns Jungen, knapp acht, sechs, drei Jahre und ein halbes Jahr
alt, aus Rastenburg in Ostpreußen (heute Kętrzyn, Polen) per Eisenbahn nach
damals Lissa/ Warthegau (heute Leszno, Polen). Weil die Ostfront bedrohlich
näher rückte. Ich erspare dem Leser hier die Schilderung von Mühen der Reise.
Weil wir unterwegs von einer gütigen Frau jeder einen Apfel geschenkt bekamen, als
wir extrem hungrig waren und nörgelten, sind heute noch Äpfel für mich ein wahrer
Genuss.
Unser Vati war als
Oberleutnant der Wehrmacht in Lissa Kommandeur der dortigen Ausbildungseinheit.
Er brachte uns nach Begrüßung in das Dorf Storchnest, in den dortigen Gasthof.
Wo wir bis zum 17. Januar 1945 in einem Zimmer lebten. Anfang Dezember begannen
heftige Schneefälle und es herrschten ständig sinkende Temperaturen. Der See,
an dessen Ufer der Gasthof stand, fror dick zu. Mutti wusste sehr gut, dass sie
uns diese Weihnachten keine Freude mit Geschenken bereiten konnte. Also hatte
sie mit den Wirtsleuten abgesprochen, dass die unseren Bruder Ullrich und mich am
Heiligen Abend mit in die Dorfkirche nehmen durften – zu einer
Mitternachtsmesse. Die Aufregung davor vergesse ich nie. Wir wurden am
Nachmittag noch schlafen gelegt, damit wir abends recht munter waren für den
Weg und die Eindrücke.
Bei etwa – 20 Grad
Celsius wurden wir dick angezogen unseren Betreuern zugesellt. Die gingen einen
schon recht ausgetretenen Pfad über das dicke Eis des Sees, in eine für mich unbestimmte
Richtung. Aber Ulli und ich hielten uns sehr fest an den Händen der guten Leute.
Vor allem, nachdem das Eis auf lange Strecke hin donnernd riss (bei sinkendem
Wasserstand normal). Das Besondere an dem nächtlichen Spaziergang war das
Mondlicht, welches die Welt um uns zauberhaft versilberte. Dazu ein so klarer
und dicht besternter Himmel, weil der Gefahr von Bombenangriffen mit
Abschaltung aller Außenbeleuchtung und sehr dichter Verdunklung der Fenster
begegnet wurde. Also störendes Kunstlicht fehlte. Diese Art von eindrucksvollem
Himmel habe ich erst weit mehr als 60 Jahre später in der Ukraine wieder
erlebt. Vollends eindrucksvoll wurde der Weg aber, als die Wirtsfrau mit
angenehmer Stimme das mir seit dieser Zeit liebste Weihnachtslied halblaut zu
singen begann: „Es ist für uns eine Zeit angekommen, die bringt uns eine große Freud…“.
Die letzte Strophe lautet:
„Vom
hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen
erfüllt
die Herzen mit Seligkeit.
Unterm
sternbeglänzten Zelt
wandern
wir, wandern wir
durch
die weite, weiße Welt.“
Einprägsame Worte
und eine einfache, mir sehr angenehme Melodie.
In die innen schwach,
genauer dürftig beleuchtete Kirche gingen wir rasch. Empfanden die Innentemperatur
als angenehm warm. Da unsere Eltern religionslos waren, machte der bescheidene
Innenausbau der Dorfkirche bei diesem erstmaligen Besuch eines sakralen Baues auf
mich einen ganz besonderen Eindruck. Der Pfarrer – Katholik oder Protestant –
predigte kurz und für die Erwachsenen offensichtlich einprägsam. Was ich
erinnere: er sprach viel vom Frieden. Den wohl die meisten Zivilisten
herbeisehnten. Auf dem Heimweg bat ich die Wirtsfrau darum, dass sie das oben
genannte Weihnachtslied erneut singen möge. Sie erfüllte mir meinen Wunsch. Danach
sangen wir noch einige Weihnachtslieder gemeinsam. Den Weg so scheinbar
verkürzend.
Am folgenden ersten
Feiertag wurden wir von den Wirtsleuten zum Essen eingeladen. Letztmalig für
lange Jahre haben wir Gänsebraten mit Rotkohl und ausreichend Kartoffeln auf
dem Teller gehabt. Das „kleine Glück vom Sattsein“ ausgekostet.
Rund einen Monat
später verabschiedete sich unser Vati letztmalig von uns. Wir wurden
anschließend dick vermummt auf einen vollgepackten Leiterwagen gesetzt, den
zwei kräftige Pferde zogen. Es begann unsere Flucht „heim ins Reich“ bei Schnee
und niedrigen Minustemperaturen. Wir beiden „Großen“ – Ulli und ich – sahen viele bis zu der Zeit unvorstellbare Vorgänge, die sich unauslöschlich
ins Gedächtnis einbrannten.
Unser Glück: ein mit Mutti und Vati bekannter Offizier
der Feldjägerei (in erster Linie Kurierdienst für wichtige Dokumente) sah uns
und nahm (gegen alle Vorschriften, wie ich heute weiß) uns fünf auf seinem
Kleinlastwagen bis in die Nähe von Wünsdorf mit (nahe dem Oberkommando des
Heeres).
Von Vati erfuhren
wir später, dass er mit der Besatzung seines Dienstwagens von einer feindlichen
Panzergranate zerrissen worden war.
Wir haben also
Frontnähe, Flucht und Hunger nach der Weihnachtspause am eigenen Leib erlebt. Deswegen
ist mein Mitgefühl für Flüchtlinge hier in der Ukraine sowie in Westeuropa und getötete
Soldaten oder Zivilisten, vor allem Kinder, ungeteilt.
Dennoch halte ich
es mit dem amerikanischen Diplomaten und Friedensnobelpreisträger Ralph Johnson
Bunche: „Es gibt keine kriegslüsternen Völker. Es gibt nur kriegslüsterne
Führer.“ Die andere Art des Herangehens entzweit Völker mehr als der Krieg
selbst.
Aber gegenüber von Terroristen
bin ich der Auffassung, dass diese wo auch immer ergriffen und einer gerechten
Strafe zugeführt werden sollen. Auch wenn die oben erwähnten „kriegslüsternen
Führer“ sie zu ihren Handlungen verleitet haben.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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