Auch wenn es scheint, dass Folgendes
nicht ins Thema gehört – es ist dennoch hier dabei. Denn die große Überschrift für
alle Beiträge ist doch „Erlebnis Leben“.
Als ich am Sonnabend, dem 12.09.2015
auf meinen Unterarmstützen die Paulstraße in Berlin-Moabit überquerte, wünschte
ein mir völlig unbekannter älterer Mann einen „Guten Morgen“. Erstaunt, aber
vor allem erfreut antwortete ich ihm mit eben diesen Worten. In der großen
Stadt am frühen Morgen nicht nur das von allen gewohnte faule „Morgen“ zu
hören, sondern einen freundlichen Wunsch – das ist schon etwas. Zumindest für
mich.
Anschließend flog dicht vor mir eine
Elster in die nach innen geschlossene Vertiefung eines Kellerfensters, machte
es sich dort etwa zwei Meter von mir entfernt bequem und flog auch nicht auf,
als ich bis auf einen Meter an ihr vorbei ging.
Bei „Penny“ angekommen, war dort so
ein Gedränge, dass der Versuch, zwei 50-Cent-Stücke in einen Euro für den
Einkaufswagen zu wechseln, mir auf meinen Halbstützen zu gewagt vorkam. In der
nahen Apotheke zeigte mir die dort tätige Schwarzafrikanerin (aber wenn sie aus
den USA hergeheiratet ist? – blöde Politkorrektheit!) den Inhalt der Kasse.
Kein Euro. Sie bat mich zu warten, holte ihr Portemonnaie und gab mir einen
Chip. Sie hätte daheim noch mehr von denen. Ich bedankte mich herzlich bei der
netten Frau. Noch ein freudiges Erlebnis an diesem Morgen.
Schließlich ging ich zum
Abendspaziergang Richtung Schloss Bellevue. Mir begegneten viele Leute. Am Zaun
des Anwesens ein langes Stofftransparent „Bürgerfest des Präsidenten“.
Bedauerlich, dass ich eher nichts davon gewusst hatte. Aber das vierte
erfreuliche Erlebnis des Tages gab es dann doch noch. Am Rande der Wiese vor
dem Schloss standen zwei gut gepflegte Pferde mit ihren beamteten Reitern auf
dem Rücken. Diese hatten zu tun, die Knirpse davon abzuhalten, sich den Tieren
von hinten zu nähern. Vorn ließen sie zu, dass jeder der wollte, die gut
erzogenen Pferde streichelte. Für einen auf dem Dorf aufgewachsenen Jungen
selbst im Alter ein unbeschreiblich angenehmes Gefühl. Der Sonnabend schloss
würdig freudvoll ab.
Als ich im September 1971 meine
Rehabilitation beendet hatte, war es bereits kühl geworden. Die Lektionen der
Fachleute nachzuarbeiten war nicht besonders schwer, weil meine
Studienkameraden Ernst und Gustav für mich Blaupapier-Kopien ihrer Mitschriften
anfertigten und regelmäßig zustellten. Anfang Oktober war ich wieder beim
regulären Studium.
Am 21. November besagten Jahres hatte es nachts erst
geregnet. Dann gab es leichten Frost und
in der Frühe war Staubschnee gefallen. Auf einer glatten Fläche rutschte ich
aus, knickte mit dem linken Knie ein wie ein Federbein am Flugzeug bei der
Landung. Im Kniegelenk krachte es, natürlich nur für mich hörbar, als wenn
Autos zusammenstoßen. Mit Hilfe von Passanten kam ich zu meiner entgeisterten
Frau zurück. Innerhalb von 15 Minuten hatte ich im linken Knie einen Bluterguß, welcher von außen wie ein Handball wirkte. Der gerufene Arzt kommandierte sofort. „Burdenko, Orthopädie.“
Als
ich dort auf der Trage in die Station getragen wurde, lief uns Viktor Wassiljewitsch
über den Weg. „Was hast du gemacht?“ „Nur etwas Fußball gespielt.“ Er wollte
aufbrausen, jedoch konnte ich ihn mit der Wahrheit beruhigen. Als er nach zwei
Tagen operierte, bei örtlicher Narkose, fragte er: „Hörst du die Knöchelchen im
desinfizierten Silberlöffel klappern? Die muss ich jetzt sortieren, damit du
eine einigermaßen vernünftige Kniescheibe bekommst.“ Nach der OP folgten Abheilen
der Wunde und danach Gehgips wie gehabt. Das Rehabilitieren wurde diesmal
wesentlich länger. Das Wiedersehen mit meiner tatarischen Masseuse war herzlich
und wie zu erwarten schmerzlich.
Mitte Dezember fragte Viktor mich, ob ich aus
dem Zimmer mit vier Patienten umziehen wolle. Mir hatten die Männer dort
zugesagt, so dass ich nach dem Grund forschte. Er erklärte, dass ein armenischer
Generalleutnant mit einer schwierigen Hüftverletzung aus einem unverschuldeten
Autounfall ihn gebeten habe, ihm doch einen Gesprächspartner mit in das zum
Einzelzimmer umfunktionierte Doppelzimmer zu legen. Der kontaktfreudige, aber
durch sein Leiden relativ unbewegliche Chef Rückwärtige Dienste einer
Militärakademie fühle sich dort einsam. Viktor wollte erst meine Meinung
erfahren, um keine unüberlegten Schritte zu tun. Wie ich später erfuhr, hatte
er dem General zu dem Zeitpunkt noch nicht gesagt, dass er ihm einen Ausländer
vorschlagen würde.
Nach einer halben Stunde etwa wurde mein Bett mit Inhalt in
das Einzelzimmer gerollt. Beide Betten standen gerade zur Wand, aber so schräg
einander gegenüber, dass wir ohne Mühe sowohl liegend als sitzend unseren
Gesprächspartner sehen konnten. Nachdem ich als der Jüngere nach Jahren und
Rang mich vorgestellt hatte und kurz die erforderlichen Informationen vom
Älteren bekam, begann ein außerplanmäßiges Examen. Das bestand ich. Denn wir
blieben bis zu meiner Entlassung in diesem Raum. Das war nach Neujahr. Bis dahin
unterhielten wir uns über so viele Themen, dass es sie hier aufzuzählen nicht
lohnt. Entsinne mich, dass der General erstaunt war über mein Zusammentreffen
mit Juri Gagarin im Hof unserer Akademie, mit mir angeregt über die Namen
römischer und griechischer Gottheiten stritt und leicht verwundert war, dass mein Wissen
darüber seinem nicht nachstand.
Hier zwei weitere, bei Dr. Meyer unvorstellbare
Erlebnisse nichtmedizinischer Natur.
Vor Sylvester kamen drei armenische Landsleute
zu Besuch, natürlich mit „milden Gaben“. Ein geräucherter Schinkenaufschnitt „Basturma“,
Fladenweißbrot „Lawasch“, im Weinkeller aufbewahrte Weintrauben, mit extrem
großen wie Bauernpflaumen Weinbeeren und einen exzellenten armenischen Kognak,
wie ich ihn erst 40 Jahre später wieder zu trinken bekam. Während unserer
kleinen Feier ließ sich niemand vom medizinischen Personal sehen. Alles verlief
kultiviert und war hochinteressant, auch wenn die Gäste nicht selten ins heimatliche
Armenisch abglitten. Etwas einfacher gestaltete sich der eigentliche Übergang
ins Jahr 1972. Wir hatten ferngesehen, beglückwünschten einander zum Jahreswechsel.
In einem anderen Krankenzimmer gab es ebenfalls eine sehr interessante
Belegung. Drei sowjetische Militärs, dazu drei dunkelhäutige Afrikaner. Sie sprachen
ihre Stammessprache, dazu einer Englisch, der zweite Französisch und der dritte
Spanisch. Es war putzig, wie sie sich auf Russisch verständigten.
Die Einheimischen
hatten – trotz Verbot – zumindest Wodka besorgt. Weil zwei der Afrikaner
Mohammedaner waren, hatten sie den Hochprozentigen noch nie probiert. Als sie
aufgefordert wurden, zur Probe vorher mitzuhalten, redeten sie sich auf Allah
heraus. Die damals zumindest scheinbar gottlosen Sowjetbürger zogen die festen
Verdunklungen zu und schworen, dass so niemand etwas sehen könne. Den drei
Afrikanern hatte die Kostprobe gefallen – sie langten am Sylvesterabend mit zu.
Deshalb waren sie auch bereit, im abgedunkelten Korridor die geleerten Flaschen
im Schrank der außerordentlich peniblen Stationsschwester zu verstecken. Diese lieferte
uns am Neujahrsmorgen das erwartete Konzert.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried
Newiger
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