Als ich im Januar
1972 endlich mit erneut mobilisiertem Kniegelenk aus der Burdenko-Klinik
entlassen wurde, sagte Viktor Wassiljewitsch zu mir: „Was wir zur Rettung
deiner Beweglichkeit tun konnten, haben wir getan. Sport, Laufen, Ballspiele
existieren für dich nicht mehr wie bisher. Werde aber nicht unbeweglich. Suche
dir aus sportlichen Aktivitäten das heraus, was zu deiner Begrenzung passt.
Radfahren, Schwimmen, ähnliches. Mit höherem Alter werden sich Beschwerden bei
dir einstellen. Abnutzungserscheinungen. Doch die Entwicklung geht weiter.
Andere, gewiss deutsche Kollegen werden dir helfen.“
Das war der erste Hinweis
auf Dr. Meyer.
Weil ich nach Studienabschluss während eines kurzen
Truppeneinsatzes beinahe vom Tragschraubenmittelpunkt eines Hubschraubers
gestürzt wäre, da das linke Bein nicht genug gebeugt werden konnte, erkannten
die Ärzte kurz darauf auf eine Dienstbeschädigung. Um aber die in der Akademie
der sowjetischen Luftstreitkräfte erworbenen Kenntnisse nicht ungenutzt zu
lassen, empfahlen sie meinen Einsatz in der Lehre. So vermittelte ich über
Jahre jungen Piloten die Grundkenntnisse der Avionik – wie das heute heißt.
Gleichzeitig
mit dieser Entscheidung informierten mich die untersuchenden Orthopäden über eine
wenig beruhigende Tatsache. „Aus unserer Sicht wird sich die Beweglichkeit
ihres Kniegelenks zunehmend vermindern. Maximal etwa in einem Jahrzehnt dürfte es
völlig steif sein.“ Das erfasste ich nicht gleich in aller Tragweite. Aber später
überlegte ich: das hätte dann teilweise Berufsunfähigkeit bedeutet.
Als wir
wieder einmal in Moskau waren, um zur Schwiegermutter nach Woronesh zu reisen,
besuchte ich Viktor. Wir sprachen mit ihm über die bekannt gewordene Diagnose.
Er schaute sich mein Knie an, betastete es aufmerksam und kundig, antwortete
mir: „Hier stehen zwei Meinungen einander gegenüber. Du kennst gewiss den
Spruch, dass jeder Frosch seinen Sumpf lobt. Da mache ich keine Ausnahme. Ich
meine, dass meine deutschen Kollegen sicher nur mit 10 % Wahrscheinlichkeit
Recht haben. Garantieren kann ich dir das nicht – aber ich denke, dass dein
Knie länger beweglich bleiben wird.“ Das blieb es. Mit den gewissen
Einschränkungen bei der Beugung. Über 44 Jahre hinweg. Der ärztlichen Kunstfertigkeit
des Orthopädie-Chirurgen, meines Freundes Viktor Wassiljewitsch Tsherkaschin
sei Dank!
Am 22. Dezember 2007 waren wir mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt
in der Nähe zur Humboldt-Universität in Berlin. Nachdem ich einen einzigen
Becher Glühwein getrunken hatte, wurde mir schlecht. Ich setzte mich rasch auf
einen Baumkloben. Munter wurde ich erst wieder, als mich mein Freund zum
fünften Mal geohrfeigt und zwischendurch den Rettungswagen angerufen hatte. In
der Charité stellte man fest, dass bei mir weder Herzinfarkt noch Schlaganfall
vorlagen. Lediglich sehr deutliche Herzrhythmusstörungen. Deshalb wurde ich weit
nach Mitternacht zur weiteren Behandlung in das Sankt-Hedwigs-Krankenhaus
gebracht.
Dort hatte man wegen der
Weihnachtsfeiertage einige organisatorische Zusammenlegungen vorgenommen, um
dem Personal Zeit für den verdienten Weihnachtsurlaub frei zu machen, so dass
ich auf der Krebsstation ein Bett bekam. Was ich aber erst am nächsten Morgen
merkte. Ohne darüber sofort zu zetern – wie mancher das unmittelbar nach einer
solchen ihn schockierenden Entdeckung tut. Die Tage auf dieser Station haben mir wieder viele neue
Einsichten vermittelt, die mich alles mir mögliche tun lassen, damit
Mitmenschen ihre Gesundheit vorbeugend bewahren.
Am Nachmittag des 23. Dezember
kamen Natascha und Sveta zu mir, die sich erst einmal ausgeschlafen hatten,
nachdem sie bis in den frühen Morgen an meiner Seite waren. Sie verkündeten ihren
Entschluss: beide fahren im Auto am nächsten Morgen gemeinsam in die Ukraine.
Die Studentin Svetlana würde am 25. Dezember wieder zurückkommen.
Als am
Heiligen Abend sich am Nachmittag bei den anderen Patienten die
Familienangehörigen einfanden, war ich ein wenig bedrückt, wusste ich doch
meine beiden Mädchen auf der rund 1500 km langen Strecke zwischen Berlin und
Belaja Zerkov. Etwa gegen 18 Uhr kamen zwei junge Frauen herein, die zielsicher
auf mich zusteuerten. Erst beim Näherkommen erkannte ich zwei Freundinnen von
Sveta. Eine Ukrainerin, eine aus Moldawien. Meine kleine Tochter hatte sich um
mich gesorgt – die slawischen Freundinnen ihren Auftrag erfüllt. Darüber freute
ich mich herzlich. Sie teilten mir mit, dass die freien Straßen in Polen und im
Grenzbereich meinen Mädels erlaubt hatten, schon in ihr Heimatland einzufahren. Eine vorzügliche Nachricht!
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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