Wenn einer eine Reise tut ...

Der Morgen des 5.März 2012 in Kiew war weißgrau. Es hatte in der Nacht etwas geschneit, der Himmel blieb bewölkt. Mein grusinischer Freund fuhr mich zum Hauptbahnhof. Ich hatte bei ihm und seiner ukrainischen Partnerin griechischer Abkunft übernachtet. Beide herzliche und um ihre Gäste stets besorgte Gastgeber. Natascha hatte mich am Vorabend zu ihnen  gebracht und war zurück nach Belaja Zerkov gefahren. Wir beiden hatten keine Lust, sehr früh aufzustehen, danach die 85 km bei unvorhersehbarem Wetter bzw. Straßenverhältnissen mit dem Auto nach Kiew zu düsen,  damit ich  den nach Winterfahrplan um 7.23 Uhr abfahrenden Zug Kiew-Berlin erreichen konnte. Tatyana, unsere Freundin, hatte von der Reise gehört und die praktizierte Lösung vorgeschlagen.
Unterwegs habe ich mich bei Avtandil noch mit der russischen Redensart bedanken können: „Was brauchst du hundert Rubel, wenn du hundert Freunde hast.“ Wir verabschiedeten uns herzlich wie immer.

Die erste Überraschung dieser Reise war besonders positiv. Ich hatte schon alle Sachen verstaut und war dabei, den Laptop auszupacken, als in der Abteiltür SIE erschien – Katerina. Für mich die schönste ukrainische Zugbegleiterin. Sie ist etwas mehr als mittelgroß, hat eine ausgeprägt weibliche Figur noch ohne sichtbaren Fettansatz, kräftig-gerade Beine, naturgewellte tiefbrünette Haare, aus dem schön-interessanten Gesicht schaut sie ihr Gegenüber mit ausdrucksvollen schwarzen Augen an.  Da ich sie von mehreren gemeinsamen Fahrten als humorvoll und intelligent kannte, freute ich mich auf die bevorstehende gemeinsame Reise besonders. Nach der von beiden Seiten etwas erstaunten Begrüßung die kalte Dusche für mich: sie hätte für nahe Freunde schon abgesprochen, dass sie nach Kovel mit dem Pärchen gemeinsam im Abteil fahren würden und sie bäte mich, ein noch freies, in der Verfügung der Begleiter befindliches Abteil zu beziehen. Dort wäre ich auch ungestört.
Obwohl etwas enttäuscht, gab ich der Bitte dieser reizenden Dame nach. Ihr dankbares  Lächeln entschädigte nur wenig …
Der Anruf an Natascha enthielt die – bittere – Wahrheit: ich hätte aus „betriebstechnischen Gründen“ ein Abteil ganz für mich allein. Die Ermahnungen der besorgten Ehefrau vor allem zur kriminogenen Situation ließ ich geduldig am Ohr vorbeirauschen.

Für einen am Leben insgesamt interessierten Menschen sind die mit einer Entfernung von Massenmedien verbundenen „Entzugserscheinungen“ bekannt, aber auch Grund für ein Überdenken des eben erst Geschehenen. Also habe ich mich hingesetzt und meine Eindrücke aus den Fernsehberichten des vergangenen Abends zur Wahl des russischen Präsidenten für meinen Blog notiert, geordnet und formuliert.

Gegen 16.00 Uhr kamen wir in Kovel an. Katerina und Begleitung stiegen aus, sie winkte zum Abschied. Weil nach etwa einer Stunde Fahrt der Grenzort Jagodin kommen würde, wollte ich mir aus einem Bahnsteigkiosk eine Flasche Bier zum Abendbrot holen. Die gewöhnlich gut bestückten und mit Personal besetzten Kioske auf dem Bahnsteig und im Bahnhofsgebäude waren ausnahmslos und erstaunlicherweise alle leer! Der Zugbegleiter versicherte mir, dass wir wirklich 40 Minuten Aufenthalt hätten. Also hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Dort ein Marktgewimmel, in dem vom lebenden Huhn und Ziegenmilch alles andere Mögliche an Obst, Gemüse und so weiter verkauft wurde. Mit dem Pflaster des Bürgersteigs als „Ladentisch“.
In einem der dortigen Kioske konnte ich mein ungefiltertes Bier der Marke „Tshernigowskoje“ kaufen und kam zurück zum Zug. Der Schaffner lächelte und meinte: „Ich habe nichts gesehen.“ Auf meine Frage erklärte er mir, dass Alkohol im Zug zu trinken seit einiger Zeit verboten ist. Wieder eine Neuigkeit, allerdings begrüßenswert. Wer schon randalierende Reisende hier erlebt hat, wird das auch gutheißen.

Pünktlich waren wir zur Grenzstation gekommen. Dort warteten zwei Prozeduren auf uns. Die Passkontrolle: als Information für erstmalig ins Land einreisende Leute - zurzeit noch mit Abgabe der Pässe für längere Zeit an den Beamten. Anschließend die Zöllner. Danach fährt man den Zug rückwärts in eine große Halle und trennt die Wagen voneinander. Jeder wird zwischen vier Säulen gestellt, welche Teile eines hydraulischen Hebesystems sind. Nach der Entfernung eines Sicherungsbolzens am Hauptdorn jedes der beiden Fahrgestelle werden die Wagen angehoben und die Fahrgestelle entfernt, um gegen die mit der anderen Spurbreite ausgetauscht zu werden. In der ehemaligen Sowjetunion waren als Erbe aus der Zarenzeit alle Bahnen auf einer breiteren Spur vorhanden als in Westeuropa.
Nach diesem technisch genial einfachen Vorgang, der etwa eineinhalb Stunden dauerte, ging es zurück, aber auf den Schienen mit der passenden Spurweite, also an einen anderen Bahnsteig.
Der Grenzbeamte überreichte mir meinen Reisepass, nahm ihn mir im gleichen Moment wieder aus der Hand und sagte: „Einen Augenblick.“ Sein Gesicht nahm einen – wie ich erst später begriff – gut gespielten bedauernden Ausdruck an: „Sehen sie mal her. Ihr Pass ist doch seit 5 Tagen abgelaufen.“ Ich schaute in das hingehaltene Dokument – echt, bis 29.02.2012 gültig. „Wir können sie so nicht ausreisen lassen. Kommen sie bitte mit ins Dienstzimmer.“ Ich wollte schon mein Gepäck greifen, aber er meinte: „Das können sie hier lassen.“
Ich war schockiert. Die Diensthabende, eine recht hübsche Irina, fragte mich nach allen Regeln der Kunst. Ich antwortete bereitwillig, wies meinen Aufenthaltstitel vor. Ich sprach davon, dass jemand, der im Lande ständig ohne Personalpapiere unterwegs ist, nicht jede Woche auf den Ablauf seines Reisepasses schaut, vergaß nicht zu erwähnen, dass ich wegen der Herzschrittmacherkontrolle unbedingt nach Berlin müsse. Ab und an telefonierte sie im Nebenzimmer, beruhigte mich ein wenig, dass es vielleicht eine für mich positive Lösung geben könne. Dann rief sie einen der Unteroffiziere heran und gab Weisung, die Zugabfahrt „zu verhindern“. Nach etwa 15 Minuten: „Wir lassen sie aus dem Land mit dem ungültigen Dokument, aber nicht wieder herein. Gute Reise.“ Dankend stürmte ich davon, schuldbewusst, die Abfahrt verzögert zu haben.

Auf der polnischen Seite Verwunderung beim Grenzbeamten: „Warum haben sie keinen Ausreisestempel von den Ukrainern bekommen?“ Ich erzählte. „Mit einem ungültigen Pass dürfen sie nicht einreisen.“ Ich zückte meinen Personalausweis, den die Ukrainer als für sie nicht gültiges Dokument bezeichnet hatten (zu Recht, Visum muss nicht, aber Pass muss sein!). Der polnische Ordnungshüter akzeptierte. Erst hier begriff ich, was für ein psychologisch geschicktes Spiel vorher mit mir getrieben wurde. Denn wenn sie den Stempel nicht gesetzt haben, wusste der Grenzer das vorher und hatte sicher auch die Aufgabe, meine Reaktion zu beobachten.
Während dessen an der Waggontür ein Spektakel. Eine der Zugbegleiterinnen konnte nicht beweisen, dass das gefundene Schmuggelgut nicht ihres war (gewöhnlich Wodka oder Zigaretten, die geschickt versteckt, aber auch geschickt gefunden werden). Sie wollte auch nicht aussteigen, um ein Protokoll zu unterschreiben – bekam aber ihren Pass nicht zurück. Gegen Konfiskation der Ware und eine Zahlung von 400 Zloty „kam sie frei“. Der Zug fuhr endlich weiter. Wir konnten schlafen gehen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger

P. S. Wer einiges Interessantes über den Weg der russisch sprechenden Ausländer in der Ukraine erfahren möchte - es gibt auf der Website http://reich-weil-gesund.com/ ein e-Book "Ein Ossi im Wilden Osten" von mir. Vielleicht interessiert?


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