Meine Grabstelle ...

Ja, die habe ich heute wie schon einige Jahre wieder einmal besichtigt. Nicht allein - meine Frau und mein Stiefsohn waren mit dabei. Das ist hier jedes Jahr eine Woche nach dem orthodoxen Osterfest üblich. Nur: man geht nicht seine Grabstelle besuchen, sondern zum Totengedenktag auf den Friedhof.

Mir gefällt das. Nicht wie in Deutschland im trüben November, wo dieser Tag auch "Totensonntag" genannt wird, sondern im Frühling. Der Kontrast ist größer. Etwa in der Art: dort liegen unsere Lieben, von denen wir uns leider trennen mussten. Aber wir leben noch! Das ist doch wunderbar, Leute - oder?

Dementsprechend ist auch das quirlige Durcheinander auf dem Friedhof, der wenig von einem Totenacker hat und auch nicht besonders friedvoll aussieht. Aber der Reihe nach.

Von daheim wurde ein geflochtener Weidenkorb mitgenommen, in welchem vom Osterkuchen "paska" fünf Stücke lagen, 5 Ostereier, eine große Hand voll Konfekt in buntem Papier, eine 0,5-l-Flasche Wodka, dazu auch 7 Einwegbechern, zwei in Stücke geschnittene Äpfel, weiße Servietten und eine große Tüte voll kurzstieliger Kunstblumen.

Zum Friedhof gab es heute nur einen Weg. Um dem Besucherchaos Herr zu werden, war die vorbeiführende Straße zur Einbahnstraße erklärt und entsprechend von der Polizei gesichert worden. Wir rollten etwa 800 m im Schritttempo hinter anderen dahin, um eine Parklücke zu finden. Wir meinten, Glück gehabt zu haben - aber in der Lücke durch ein ausfahrendes Auto tauchte ein junger Mann auf, der sie sperrte. Natascha versuchte ihn langsam fahrend vom Platz zu drängen, als seine Mutter auftauchte und ein keifender Dialog begann. Sie hätte den Sohn beauftragt, diesen Platz zu sichern ... Wenn Frauen keifen, bin ich still, um nicht ins Kreuzfeuer zu geraten.

Wir mussten abziehen, konnten aber nach etwa 20 Metern eine frei werdenden Lücke auf der anderen Straßenseite besetzen. Von dort ging es etwa 200 m zurück auf den Friedhof.

Dort ein wahres Getümmel. Es war inzwischen um 11 Uhr geworden - Rush-Hour. Einige vernünftige, die nicht so lange geschlafen hatte, bereits auf dem Rückweg. Andere hatten auf den an den meisten Grabstätten stehenden groben Tischen ausgepackt, was man "mit den lieben Toten" gemeinsam verzehren wollte. Von bescheidenen Speckschnitten über Tomatensalat und andere Leckereien (Piroggen, Pasteten,Pellkartoffeln, Salzgurken ...). Mancher Tisch war gedeckt wie eine Festtagtafel. Die Leute standen meist, von einzelnen Gräbern her tönte religiöser Gesang herüber - dort las ein Priester eine Messe, begleitet von einem Mann oder einer Frau mit angenehmer Stimme als Begleitung. Das alles ungeordnet - also etwa von drei Stellen mit verschiedenem Einsatz.  

Wir besuchten zuerst die Gräber von Nataschas Großeltern. Sie und Pavel hatten einige Zeit davor Unkraut entfernt, Farbschäden an der Umzäunung ausgebessert und einige Blumen gepflanzt. Nun wurde auf jedes Grab eine Serviette gelegt, nachdem zuvor drei Kunstblumen längs in den Boden gesteckt wurden. Auf die Serviette kam ein mit einem Schluck Wodka gefüllter Becher. Er wurde mit dem Kuchenstück überdeckt. Anmerkung: auch zur Beerdigung kommen Brot und Wodka mit auf den Friedhof - für die Totengräber. Und dort, wo das Essen nach Beerdigung stattfindet, steht auf dem Tisch ein Teller mit gekreuztem Besteck, darauf das Glas voll Wodka und über dem eine Scheibe Brot.
Auf die Serviette wurde dann noch ein buntes Ei gelegt und drei bis fünf Stückchen Konfekt. Danach goß ich als der Älteste für die beiden Männer einen kleinen Einwegbecher voll Alkohol. Wir verneigten uns vor den Gräbern und tranken auf das Wohl der Lebenden in der Erinnerung an die toten Vorfahren. Nachgegessen haben wir Apfelstücke.

Der Vorgang wiederholte sich an den Gräbern von Nataschas Eltern. Auf dem Friedhof wurde es langsam etwas ungemütlich. Kleine unerzogene Kinder rasten herum, die ersten Angetrunkenen begannen auch zu lärmen ... Wir gingen bald hinaus, nicht ohne dass Natascha festlegte, ich hätte nach meinem Ableben die Ehre, neben meine verblichenen Schwiegermutter ruhen zu dürfen.

Wir hatten noch einige Blumen übrig behalten. Meine Frau ging noch einmal zu den Gräbern der Großeltern. Wir blieben auf dem Weg. Sie rief uns zu: "Die Totengaben sind schon weg!" Man kann vor allem Zigeuner und deren Kinder sehen, die sich nach dem Fortgang der Verwandten alles Essbare einsammeln - wenn nicht einiges davon zum Nachessen von den glücklichen Säufern genutzt wurde, für welche dieser Tag ihr Festtag ist ...

Weil ich nach diesem Ereignis noch auf den Basar musste, erfuhr eine Verkäuferin von mir das "Erlebnis". Sie reagierte erstaunlich. Sie lebt auf dem Dorf - da geht dieser "Ahnengedenktag" wesentlich gesitteter vor sich, ohne das Bestreben zu zeigen, "dass man wer ist und dass man es hat". Allerdings erzählte sie einen zum Thema passenden Witz - schwarzer Humor.
Dem Opa geht es schlecht, die Eltern bitten den Sohn, zu ihm ins Zimmer zu gehen und ihm nach Möglichkeit etwas Lustiges zu erzählen. Der Bursche geht hinein und fragt: "Opa, welche Musik möchtest du nach deinem Tod hören - Klassik oder Rap?"

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger










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