Ehre der Arbeit


Erstmalig bin ich über längere Zeit in der Werkhalle  eines Unternehmens tätig, welches unter anderem Produkte für die Montanindustrie fertigt. Gelegen in der Ostukraine, in Lugansk. Weil meine Kollegen die sprachliche Unterstützung nur selten brauchen – sie sind mit monotonen Arbeiten beschäftigt wie Löcher in metallische Konstruktionen bohren und darein Gewinde schneiden – habe ich mir einen Arbeitsplatz für meine Schreibarbeit in Nähe elektrischer Anschlüsse gesucht. Diese sind in der Werkhalle selten – die Fertigungstechnik ist an 308-Volt-Netze angeschlossen. Etwa alle 20 Minuten läuft automatisch der von meinem Stuhl ca. 1,5 m entfernte Kompressor an, um den Druckbehälter für zwei Werkhallen aufzufüllen. Er macht viel Lärm. Dagegen habe ich mir meine Kopfhörer vom Laptop aufgesetzt. Im Hintergrund sind die Geräusche von zwei Karusseldrehbänken und einer Wasserstrahl-Schneidmaschine hörbar.
Soeben hat uns der junge Maschinenfahrer aus der ersten Schicht an der von uns zu vervollkommnenden Spezialmaschine freudestrahlend verkündet, dass der Schwangerschaftstest bei seiner Frau positiv ausgegangen ist und uns zur Taufe eingeladen.  Ein freudiges Vorereignis.
Heute früh habe ich erstmals im Becken der Wasserstrahl-Schneidmaschine eine Metallplatte von 8 cm Stärke gesehen und den mit Einstellarbeiten beschäftigten Bediener gefragt, welche Metalldicken geschnitten werden können und mit welchem Druck.  Erfahren, dass Teile mit hoher Genauigkeit und unbeschädigten Schnittflächen aus Stahl oder anderem Metall bis 200 mm Dicke (20 cm!) herausgearbeitet werden. Die numerisch gesteuerte Maschine liefert dabei die erstaunlichsten Formen nach Vorgabe. Anschließend habe ich ein fertiges Werkstück beschaut und betastet. Recht glatt, ohne Grat, exakte Form. Deutlich dem bekannteren Brennschneiden überlegen oder dort, wo möglich, dem vorzuziehen.  Natürlich wird die Anwendung auch hart kalkuliert.
Der Arbeitsdruck: 3500 bar – für ungeübte – 3500 Atmosphären. Welche Anforderungen an Sicherheitsstandards! Und an die Disziplin im Umgang mit solcher Technik! Habe hier in diesem Zusammenhang auch eine andere Information richtig einzuordnen gelernt: die Demontage von Titan-Auskleidungen in Startschächten von Raketen (Abrüstung in USA und Russland) wird mit solchen Schneidwerkzeugen vorgenommen, um mögliche Reste von Treibstoffen nicht zu entflammen. Dem an und für sich nicht kompressiblen Wasser werden noch feinste Sande oder andere Stoffe beigegeben, die Schneidmöglichkeiten zu verbessern.

In der nebenan liegenden Werkhalle bekam ich auch den Operator zu fassen, welcher gerade erst ein 60 mm dickes  und etwa 2,20 m langes gerades Metallstück (Stahl) zwischen die Walzen seiner Maschine eingelegt hatte. Durch Kaltwalzen sollte daraus ein Halbkreis geformt werden – von etwa 1,3 m Durchmesser. Der anschließend an einem anderen Platz mit einem zweiten Halbring zu einem Kreis verschweißt werden würde. Eine Weile sah ich diesem Vorgang zu – in der Abfolge der Arbeitsgänge sehr eintönig, jedoch volle Aufmerksamkeit und disziplinierte Einhaltung technologischer Vorgaben erfordernd. Denn ein hier verpfuschtes Werkstück kann nicht wie ein verbranntes Brötchen an Hühner oder Schweine verfüttert werden… Wie mein deutscher Kollege treffend sagte: „Von den langen Maschinenschrauben habe ich einige mehr mitgebracht. Die kann man einkürzen. Kurze zu verlängern ist komplizierter.“

Da ich trotz Ausbildung als Ingenieur und dadurch erworbenen Grundkenntnissen in allen Bereichen nie mit Konstruktion oder Produktion von Maschinen zu tun hatte, sondern nur mit deren Nutzung, sind mir viele Vorgänge in der Fertigung neu und deshalb interessant. Vor allem auch deswegen, weil meine Ausbildung und mit ihr verbundene Praktika in Industriebetrieben mehr als vierzig Jahre zurückliegen. Die Notwendigkeit von Spezialisten in allen produzierenden Bereichen erfasste ich hier erstmals so deutlich – auch, weil ich sie mit den mir inzwischen schon unangenehmen aufdringlichen Lockungen im Internet verglich. Nur ist dieses ihr Wissen und Können im Internet sicher nicht verwertbar. Es ist folglich etwas überheblich zu behaupten, jeder könne dort erfolgreich und reich werden. Weil nur das vermarkungsfähig ist, was auch allgemein interessiert. Wer aber interessiert sich dafür, wie ein 6 cm dicker gerader Metallstab von 2,20 m Länge (Abmessungen austauschbar) und 10 cm Breite in einen Halbkreis umgearbeitet wird? Aus hunderttausend Lesern vielleicht einer. Damit ist ein auf diese Spezialität ausgerichteter Blog einfach nicht profitabel. Nur ist häufig der Maschinenarbeiter-Spezialist nach der „Schicht für andere“ nur körperlich und geistig fertig, an seinem Ende. Er hat alles gegeben, damit wir die Segnungen moderner Technik nutzen können.

Ihn zu achten – das sollte unsere Einstellung sein. Denn genau das, was Ferdinand Freiligrath in seinem Gedicht "Ehre der Arbeit" so ausdrückt, ist wahr:

Wer den wucht'gen Hammer schwingt, wer im Felde mäht die Ähren, 
wer ins Mark der Erde dringt, Weib und Kinder zu ernähren, 
wer stroman den Nachen zieht, wer bei Woll` und Werg und Flachse
hinterm Webestuhl sich müht, dass sein blonder Junge wachse:
Jedem Ehre, jedem Preis! Ehre jeder Hand voll Schwielen!
Ehre jedem Tropfen Schweiss, der in Hütten fällt und Mühlen!
Ehre jeder nassen Stirn hinterm Pfluge!- doch auch dessen,
der mit Schädel und mit Hirn hungernd pflügt, sei nicht vergessen!“

      Nicht der umtriebige „Manager für Vertrieb“, der anscheinend das Geld hereinbringt,  ist die Hauptperson – sondern derjenige, der ohne jede Herrschaftsansprüche täglich seiner wirklich unentbehrlichen Arbeit nachgeht, die Waren für den Vertrieb zu schaffen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





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