Bei den regen Reisen ukrainischer Bürger im Lande ist
es zu bestimmten Zeiten sehr kompliziert, auf Langstrecken per Flugzeug ein
Ticket zu bekommen, eine Fahrkarte für die Eisenbahn ebenfalls. Da helfen
manchmal nicht einmal gute Verbindungen. Den weit entfernten deutschen
Geschäftsleuten, gewöhnt an fast reibungslosen Flug-, Bus- und Bahnverkehr
fällt es schwer, sich in die Situation des Dolmetschers zu versetzen, welcher
so früh wie möglich die Terminvorgaben braucht. Um unter genannten Bedingungen rechtzeitig
vor Ort sein zu können. Auch diesmal gab es die Abreiseinformation auf den
letzten Pfiff.
Die erste Änderung in einem seit Jahren gewohnten
Ablauf: nur mit Mühe und Vitamin „B“ bekam meine Frau am Schalter im Bahnhof
Belaja Zerkov doch auf meinen Namen ein Billet nach Lugansk. Der Rückweg in die
sowjetischen Zeiten: Fahrkartenkauf nur gegen Ausweisvorlage.
Am nächsten Tag die Abreise nach Kiew. Am Busstand ein
Kleinbus, etwa zu einem Drittel besetzt. So bekam ich meinen bevorzugtes
Sitzplatz: ganz vorn in der Reihe mit den Einzelsitzen. Da kann ich meine
langen Beine ordentlich ausstrecken. Das behinderte linke Knie schmerzt dann
nicht. Nach einer halbe Stunde wurde ich unruhig. Wir hatten relativ viel
Zeitreserve eingerechnet – aber nicht damit, sie gleich zum Teil aufzubrauchen.
Meine Frau hatte mich begleitet und fragte
den Fahrer, ob wir auch wirklich zum Hauptbahnhof fahren würden und wann
endlich. Er antwortete phlegmatisch. Da kam ein ungeduldiger, vielleicht durch
eine Abfahrtzeit gedrängter Passagier aus dem Bus und begann einen Streit um
die Abfahrtzeit. Der Fahrer verteidigte sich ruhig. Er sei vor genau 35 Minuten
vorgefahren. Laut Festlegung dürfe er, wenn der Kleinbus voll Passagiere ist,
sofort abfahren. Andernfalls aber erst nach 40 Minuten und mit Benachrichtigung
des Dispatchers. Eine Frau, die aus gleichem Grund ausgestiegen war, machte
ihrem Unmut ebenfalls, aber schon ungezielt Luft. Auf der Fahrt bewies der
ruhige Fahrer allerdings Klasse bei Umfahren der dank diesem langen und harten
Winter reichlichen Frostaufbrüche mit kaum gedrosselter Geschwindigkeit bei
etwa 100 km/h.
Was wir nicht vorausgesehen hatten: der Einstieg in
den Zug erfolgte auch erst nach vorzeigen eines gültigen Ausweises. Der war
zwar griffbereit – aber die Prozedur erinnerte doch sehr an Zeiten stark
eingeschränkter Freizügigkeit in der ehemaligen Sowjetunion. Die nette
Schaffnerin sah das nicht anders.
Im Abteil hatte ich eine etwa 30 Jahre junge,
sympathische Frau als einzige „Begleitung“, welche jedoch nur bis in die Stadt
Sumy mitfuhr. Von ihr erfuhr ich noch eine Besonderheit. Am Dienstag hatte man
ihr gesagt, dass der Zug ausgebucht sei. Eine Bekannte riet ihr, die Fahrkarte
bis zur Station nach Sumy zu kaufen. sie hätte die Erfahrung gemacht, dass aus
ihr unbekannten innerbetrieblichen Gründen der Verkauf solcher Fahrkarten mit
Vorteilen für den Mitarbeiter verbunden zu sein schien. Angelina, so hieß die
junge Frau, ging am nächsten Morgen so vor wie ihr geraten – und bekam ihre
Fahrkarte.
Dass man nicht nur in der Ukraine damit rechnen muss,
Besuch von Langfingern zu bekommen, ist klar. Weil ich gegen 20.30 Uhr nach
Abschied von Angelina und Forderung des persönlichen Biorhythmus mich schlafen
legte, war das eine. Allerdings hatte ich vorher alles was Interesse von Dieben
hervorrufen konnte, im Gepäckkasten unter meinem Sitz verstaut.
Wer ukrainische und russische Liegewagen nicht kennt –
hier eine Beschreibung. Die Abteile der K-Waggons (so auf dem Ticket
ausgewiesen) sind für vier Personen vorgesehen. Vier leicht gepolsterte, mit
Kunstleder überzogene Liegen auf jeder Wandseite, alle in die Schräge hochklappbar.
Die oberen, um am Tag ungehindert normal nebeneinander sitzen zu können, die
unteren, um in einen stabilen Kasten von etwa 60 % Länge der Sitzbank
diebstahlsicher wertvolles Gepäck unterzubringen. Der Rest freier Stauraum.
Unter dem Fenster ein kleiner Tisch, an welchem abwechselnd je zwei Personen
ihre Vorräte ausbreiten und essen können. Gewöhnlich sitzen da aber alle 4 um
eine überladene kleine Fläche herum, sich gegenseitig zum Zulangen aus ihren
eigenen hausgemachten Speisen einladend.
Zum Schlafen werden auf diese beschriebenen Unterteile
dicke Matratzen gelegt, welche zusammengerollt mit je einem Kopfkissen in einer
Art Gepäckablage verstaut sind. Im Ticketpreis sind die saubere,
plastikverpackte Bettwäsche und ein Handtuch enthalten.
Das Abteil hatte ich innen verriegelt, schlief bis
etwa 3 Uhr in der Frühe. Dann wollten die Flüssigkeiten gebieterisch ihr Recht.
Auf dem Gang zur Toilette keine Menschenseele. Nach Rückkehr wollte ich den
trockenen Rachen befeuchten. Die auf den Boden zwischen die Tasche mit Esswaren
und Gepäck gelegte Flasche Trinkwasser war nicht da. Meine Vorräte lege ich
nach Möglichkeit auf den Fußboden, weil es dort am kältesten ist – kühl selbst
im Sommer. Die Flasche war auch nicht weggerollt, wie ich nach dem Einschalten
des Deckenlichts sehen konnte. Stibitzt. Aber nicht in der „Pinkelpause“.
Ich war nämlich gegen 23 Uhr kurz munter geworden, weil es im
geschlossenen Abteil stickig wurde. Hatte also die Tür geöffnet, einen großen
Schluck getrunken und mich wieder hingelegt. Erwachte erst, als wir nach eine
halben Stunde Charkow erreicht hatten und das Türenschlagen Aus- bzw. Einstieg
Reisender verkündete. Nach Abfahrt verschloss ich die Tür wieder, ohne meine
Wasserflasche zu suchen. Nur so konnte man mir vorher die Flasche regelrecht
„unter dem Hintern mausen“. Der Dieb konnte darin getarnten Wodka vermutet
haben. Soweit die Theorie. Denn seit einiger Zeit wird der Genuss von Alkohol
in Zügen recht streng geahndet. Dadurch ist viel Unangenehmes aus dem Reiseverlauf
verschwunden – allerdings auch ein wenig „Kolorit“.
Angenehm war,
dass die Schaffnerin schon gegen 5.30 Uhr bereit war, mir ein Glas.heißen Tee zu servieren. Ich hatte das Glück, dass unweit von der Tür ein Stecker für Elektrogeräte vorhanden war. So konnte ich den Laptop anschließen und diesen Erlebnisbericht ohne Zeitverlust schreiben. Und da kam plötzlich meine Wasserflasche von irgendwoher unter dem Sitz hervor gerollt. Also: mir wurde nichts gestohlen – auch nicht bei offener Tür. Als ich die wieder erschienene Flasche aufnehmen wollte, machte sie sich infolge einer Bewegung des Waggons davon. Ich beobachtete das jetzt genauer. Die Flasche war nicht mehr voll. Das Wasser darin reagierte mit Verzögerung auf Kraft von außen – es schwappte in der Flasche umher. So vollführte die Flasche zusammen mit dem Waggon sehr unkontrollierbare Bewegungen, Das war der echte Grund ihres Verschwindens! Ich hatte nachts nur „meine Seite“ abgesucht, überzeugt, sie dort zu finden. Sie hat scheinbar in mehr als vier Stunden eine Reise über den gesamten freien Fußboden gemacht…
Vorurteil ist selten gut.
Bleiben
Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried
Newiger
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