Das Folgende geschah irgendwo im Kusbass in den 1970-ern Jahren. Der Erzähler dieser wahren Geschichte kam als junger Spezialist in die Brigade mit dem bejahrten, durchtriebenen Hauer Mitritsch. Es gab an der Brigade nichts Besonderes außer einem. In einer Schicht zerstörten die Bergleute ein Rattennest. Die erwachsene Rattenmutter und alle kleinen Tiere kamen um, außer einem. Mitritsch zog die kleine Ratte auf – gab ihr etwas Milch im Schälchen, streute in die auch ein wenig Antibiotika, als das Tierchen kränkelte. Bei dieser Sorge wuchs die kleine Ratte rasch heran, wurde zu einem großen Ratterich, Jerjoma gerufen. Jerjoma lebte sich ein in der Brigade, hatte seine eigene Portion. Er liebte Speck und frisches Brot, aß zu den Pausenzeiten mit allen.
Die Brigade arbeitete in einem Schacht, der noch vor dem
Krieg aufgeschlossen worden war, holten die Kohle fast vom Erdmittelpunkt.
Einmal kam es zu einem besonderen Vorkommnis. Methangas explodierte,
verschüttete den Ausgang auf etwa 200m mit dem Aufzugschacht zusammen. Einige
Bergleute wurden wie Fliegen zerquetscht, die anderen konnten in die Tiefe des
Stollens flüchten.
Als sie sich erholt hatten,
berechneten sie ihre Chancen. Luft kam irgendwie in die Grube – aber an Wasser
und Lebensmitteln war eine halbe Feldflasche Wasser geblieben und drei belegte
Brote, welche seine Frau dem Mitritsch zu Mittag eingepackt hatte. Die
Rettungskräfte konnten im günstigsten Fall in einem Monat zu ihnen durchkommen.
Nicht vergessen – das war in den 70-er Jahren, Rettungstechnik bestand aus
Kopfladern und Schaufeln wie Spitzhacken.
Alle verzagten. Plötzlich
leuchteten die Augen der Ratte im Dunkeln – Jerjoma. Jemand leuctee ihn mit der
Grubenlampe an – die Ratte lag auf dem Rücken und bewegte die Pfoten in
Richtung auf den Einsturz. Drehte sich um, lief ein Stückchen in Richtung
Einsturzstelle, warf sich wieder auf den Rücken und winkte. Dreimal. Einer der
Bergleute meinte, das sei so etwas wie ein Ruf dorthin. Weil es ja besseres
nicht zu tun gab, folgten sie dem Tier. Die Ratte hatte begriffen, dass die
Leute folgten, drehte sich nicht mehr um, sondern lief auf das abgestürzte
geröll und verschwand in einem Spalt. Die Bergleute hinterher. Der Erdspalt war
gerade so hoch, dass auch der Kräftigste unter ihnen durchkam – kriechend. Etwa
nach fünf Metern war zu sehen, dass die Explosion die Stollenwand aufgerissen
und einen Seitengang freigelegt hatte. Wieder nicht zu Aufrechtgehen, aber zum
durchkriechen. Die Ratte wartete, bis der letzte Bergmann in den Seitengang
gekommen war und lief weiter. Sechs Bergleute auf allen Vieren hinterher.
Krochen eine gewisse Strecke – und stießen auf eine Wand.
Hat Jerjoma uns in eine Sackgasse
geführt, resümierte Mitritsch. Und er wendete mit Mühe, begann zurück in den
Stollen zu kriechen. Da sprang Jerjoma auf ihn, verbiss sich in seine Hose so,
dass seine Zähne das Material durchdrangen, in die Wade fassten bis aufs Blut.
Mitritsch schrie vor Schmerz, aber die Ratte hing an ihm, stemmt sich mit den
Hinterfüßen gegen seine Bewegung. Einer der Bergleute meinte: ob er uns zwingen
will, dass wir uns heraushauen? Da er seinen Abbauhammer mit sich genommen
hatte, kroch er in die Sackgasse und begann zu arbeiten. Als die ersten Schläge
ertönten, ließ Jerjoma von Mitritsch ab und legte sich neben ihn. Die Dünnsten
krochen zurück, holten das Werkzeug aller und nach einer Stunde etwa begann
eine geordnete Aktion – Hauen und das Material zurück zur Absturzstelle
schaffen.
Wie lange sie gehauen haben,
wieviel Meter Abbau – keiner weiß das. Die Akkumulatoren der Lampen entluden
sich – sie arbeiteten wie Automaten ohne Emotionen im Dunkeln.
Im Moment, da der Abbauhammer,
die Wand durchschlagend, ins Leere flog, wunderte sich niemand, keiner konnte
sich freuen.
Als man sie, zerlumpt, halb
verhungert und verdurstet, jedoch lebend aus dem stillgelegten Nachbarschacht
an die Erdoberfläche geholt hatte, stellte sich heraus, dass sie in zwei Wochen
sechzig Meter herausgehauen hatten. In dieser Zeit hatten die Rettungsmannschaften
nicht einmal den Aufzugschacht von Gestein befreien können, vor allem auch
deshalb, weil es noch zwei Einstürze gegeben hatte, die Arbeit von Neuem
begonnen werden musste.
Mitritsch nahm den Jerjoma mit
nach Hause, wo der bis an sein Rattenende lebte. Er hatte sein eigenes kleines
Häuschen, Mitritschs Frau wechselte jeden Morgen das Wasser in der Trinkschale,
Speck und Brot gab es immer das frischste.
Die Ratte wurde in einem Sarg beerdigt, speziell von einem Brigademitglied gefertigt
aus bestem Holz.
Über dem winzigen Grab steht heute noch der kleine Granitstein
mit der Inschrift: „Jerjoma von 25 Menschen“.
Von allen jenen, die in den
Familien der geretteten Bergleute lebten.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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