Freundin Xenia

           Wir waren schon fast eine Woche in der Stadt, als ich sie anrief. Da ich ihr das sagte, war sie erstaunt. Den Anruf hätte sie eher erwartet. Um sich zu verabreden. Ihr Wadim würde aus geschäftlichen Gründen am Sonntagvormittag für neun Tage wegfahren müssen – er hätte sich auch gerne mit mir unterhalten. Ich konnte erklären, dass die unerwarteten Schwierigkeiten beim Umbau der Spezialmaschine uns häufig bis spät abends im Werk gehalten hätten – mir weder die Zeit noch die Ungewissheit über die nächsten Tage erlaubten, mich bei ihnen zu melden. Wurde akzeptiert. Sie würde mit ihren vier Mopswelpen zur Markierung müssen – aber ansonsten wären sie beide gerne mit mir an diesem Abend noch zusammengekommen. Ich sagte zu, ging rasch im nahen Geschäft etwas Konfekt kaufen und packte meine Flasche deutschen Rotweins mit dazu. 
         Meine Kollegen, die mit der Speisekarte weder in Russisch noch in Englisch so recht zurechtkommen, baten mich, dass ich ihre Bestellungen im Lokal organisiere. Weil einer besonders hungrig war, bestellte er als Beilage zum gebackenen Lachs drei Portionen Kartoffeln – einmal fri, dazu doppelt nach Hausfrauenart gebraten. Die Serviererin war etwas unschlüssig. Ob sie auf zwei Tellern servieren solle. Ich meinte – vielleicht nicht besonders elegant – sie könne ihm das doch auch zusammen auf einem Backblech bringen. Dann ging ich zum Treffen mit Wadim, der mich vor dem Hotel mit seinem Auto erwartete. 
           Als wir ihren dunklen Hof betraten, bat er mich stehen zu bleiben, ging das Licht einschalten. Beinahe wäre ich über ein Gebinde voll Weißkohl gefallen. Da fragte ich, ob sie nun auch mit dem zu handeln begonnen hätten. Die Antwort: daraus würde das Sauerkraut für den Winter bereitet werden. Xenia, keine Schönheit, aber eine Frau mit Aura, begrüßte mich herzlich. Noch vor ihr war ihre Rassekatze bei mir aufgetaucht, sagte „Miau?“ zu mir. Weil ich daheim mit unserem Kater auch in seiner Sprache rede, antwortete ich ihr ebenso. Das interessierte sie sehr – sie kam näher und wiederholte ihre Frage. Mit entsprechender Antwort. Da begann sie, sich an meinen Beinen zu reiben und ich hob sie auf den Arm. Sie beschnupperte und beleckte meine Nase, legte sich dann in meinem Arm auf den Rücken und forderte so auf, ihren Bauch zu streicheln. Dies ist der größte Vertrauensbeweis von Tieren  die Stelle ist die ungeschützteste am Körper. Die Hausherrin hatte das alles mit Verwunderung gesehen. Ich konnte sie auch erst begrüßen, nachdem ich die Katze vorsichtig auf den Fußboden gesetzt hatte. Die hübsche dreizehnjährige Tochter und ihr älterer Bruder mit Freundin waren auch zur Begrüßung gekommen und erklärten unisono, dass noch kein anderer Gast von dieser Rassekatze, Siegerin auf nationalen und internationalen Ausstellungen, auf diese „familiäre“ Weise begrüßt wurde. Das Tier kam im Verlauf des Abends noch zweimal zu mir, um es sich auf meinen Oberschenkeln bequem zu machen, sich Kopf und Bauch kraulen zu lassen. 
            In Xenias einfach blitzsauberer Wohnung riecht es weder nach den 5 Katzen noch nach den 4 Möpsinnen. Dass dazu noch momentan 4 Mopswelpen und 9 kleine Rassekätzchen kamen, machte den Gang durch dieses Quartier zu einem wahren Vergnügen. 
           Xenia, von meinem relativ unerwarteten Auftauchen doch etwas überrascht, hatte einige der hier üblichen flach geklopften Fleischscheiben gebraten, servierte dazu auf einem Backblech in Folie gedünstetes Gemüse. Ich musste lachen, was die beiden verunsicherte. Da erzählte ich von meiner ungeschickten Bemerkung gegenüber der Kellnerin. Sie lachten mit über den Zufall. Das Abendessen war eine köstliche Kombination – denn dazu wurde noch Krautsalat, Pellkartoffeln und Weißbrot gereicht. Bei ein wenig Wein – auch aus eigener Produktion und dem gelobten Halbtrockenen aus Deutschland – sowie Kirschlikör eigenen Rezepts und einem Whisky als Bettbeschwerer gab es angeregte Unterhaltung. An ihr nahmen nur die Eltern teil. Die Jugendlichen hatten sich höflich zu ihren Beschäftigungen zurückgezogen. Nur ganz sacht störte ab und an das Töchterlein, um sich zu den Hausaufgaben Rat vom Vati zu holen. Welch wundervolle harmonische Atmosphäre in dieser Familie! 
           An diesem Abend besichtigte ich auch noch den Keller. Was Xenia dort an Obst und Gemüse, an Säften und Wein eingeweckt hat, ist für eine deutsche Familie sicher sehr beeindruckend. Die etwa 15 Eimer voll Pilze sind auch noch selbst von allen gemeinsam gesammelt worden. 

           „Meine“ Katze verabschiedete sich ebenso liebevoll von mir, wie sie mich empfangen hatte. 
           Mit meinen Freunden, genauer mit unseren haben wir wirklich Glück. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





Lächeln am Morgen...

           Auf dem Weg in das ostukrainische Industriegebiet das Typische – ein wegen der zu Ende gehenden Urlaubszeit bis zum letzten Platz voll besetzter Schnellzug. Das Abteil war eines aus der günstigen konstruktiven  Lösung – nur für vier Personen. Damit war der Aufstieg zur Liege in den zweiten Rang auch für einen älteren Herrn noch zu bewältigen, wenn auch mühsam. 
          Wir hatten keinen altersgerechteren unteren Liegeplatz mehr bekommen können – fünf Tage vor der Fahrt. Die ältere Frau in dieser Gruppe war auch noch erstaunlich gelenkig. Dass die etwas jüngeren Leute – er Bergmann, sie Hautärztin – ihre unteren Liegeplätze nicht mit uns tauschten, ließ sich deshalb verschmerzen. 
           Bisher hatte ich noch nie mit einem aktiven Bergmann unterhalten können. Er antwortete mir bereitwillig auf meine Fragen und war hin und wieder verwundert, wie sich jemand für ihm so vertraute, alltägliche Vorgänge und Ereignisse interessierte. Es ist natürlich auch eine ganz andere Arbeit, Kohle mit einer modernen Kombine abzubauen, als sie mit einer Spitzhacke aus dem Berg zu brechen. 
            Unsere Reise verlief ohne Zwischenfälle, wenn man die bemitleidenswerten Verkäufer von Textilien oder anderen Waren auf den Gängen in den Waggons zwischen einigen Stationen unbeachtet lässt. Aber auch sie wollen leben… Als ich dem Taxifahrer am Bahnhof als Ziel das „Bügeleisen“ nannte, eigentlich „Hotel Freundschaft“ (ein sich einseitig am Giebel wie Treppenstufen nach oben verjüngender Bau), war er sofort zugänglicher, weil ich seinen Fahrpreis übertrieben fand und ging mit dem gleich um 5 Hrywna herunter. 
         Die Hotelchefin saß selbst an der Rezeption und war sichtlich erfreut, dass wir aus einem deutschen Unternehmen erneut bei ihr Gäste sein würden. Sie erinnerte sich gerne an uns, die wir bei unserer letzten Dienstreise ihr zu ihrem Geburtstag als einzige ihrer ausländischen Gäste mit einem schönen Blumenstrauß gratuliert hatten. Auf meine Frage, weshalb sie die zu bestellenden Frühstücksmenüs nicht durch ein Buffet ersetze, bekam ich eine für mich erstaunliche Antwort. Es hätte Probleme mit den Kunden gegeben. Weil die meisten Geschäftsleute ihre Kraftfahrer in den bescheideneren Räumen mit einquartierten, jene aber aus Gewohnheit wie täglich früher aufstanden, seien die geschätzten Fleisch- und Wurstwaren bei Erscheinen der zahlenden Gäste immer schon aus dem Angebot verschwunden. Die Mitarbeiter begrüßten mich ebenfalls freundlich wie einen guten Bekannten, fragten, ob noch andere kämen. Sehr angenehme Atmosphäre. 
         Nach einigen Tagen hatten wir im Werk zusätzlich zu den täglichen Grußzeremonien zwei winzige, aber nette Erlebnisse. Eine der in der Produktion tätigen Frauen bemerkte, als wir ihr einen „Guten Tag!“ wünschten: „Guten Morgen! Schön, dass sie gekommen sind und die Sonne mitgebracht haben.“ Galant antwortete einer meiner Kollegen mit einer leichten Verneigung in ihre Richtung: „Ist doch selbstverständlich – die Sonne für die Sönnchen.“ 
          Am selbigen Morgen kam einer unserer Kollegen von einer Spezialmaschine zurück, nach Handschlag mit deren Bediener. Jener hatte ihm eine große Plastetüte mit wunderbar großen und wohlschmeckenden Weintrauben gereicht. „Von meinem Vater aus dem Dorf für euch.“ Was für eine unerwartete und auch großherzige Geste. Wenn man weiß, wie schwer es heute die Menschen in den meisten ukrainischen Dörfern haben. 
             So begann unser Arbeitstag mit einem Lächeln von und nach allen Seiten. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





Schirmpilze

           Schirmpilze kennen viele von ihnen sicher nicht. Sie heißen auch Parasolpilze. Schon der griechische Philosoph Sokrates meinte, dass es nichts Köstlicheres gäbe als eine Portion gebratener Parasolpilze. 
           Als ich gestern vom Bauernmarkt kam, wurden auf dem Mittelweg der Allee wunderbare Steinpilze angeboten. So, wie man sie von Fotos aus Pilzbüchern kennt. Groß, fest, die Stiele gesäubert. Vom Preis zwischen 6 bis 7 € das Kilogramm. Für hiesige Bedingungen – 60 bis 70 Hrywna – ein stolzer Preis. Die beiden Verkäuferinnen hatten in ihren Körben etwa 30 kg. 
           Weil ich schon eingekauft hatte, war mein Portemonnaie fast leer. Gerne hätte ich ein Kilo gekauft. Da sah ich am Rand der Reihe eine bescheidene Frau stehen – mit Schirmpilzen. Sie bot jene in kleinen Häufchen an – je 7–8 Stück für 5 Hrywna oder auch 50 Eurocent. Das passte mir. Ich fragte, wo denn die Stiele der Pilze seien und erfuhr wie erwartet, dass die holzig und damit ungenießbar sind. Als ich erzählte, dass ich die Stiele kleinschneide, trockne und dann durch die elektrische Kaffeemühle zu einem extrem schmackhaften Würzmehl für Soßen oder Aufläufe verarbeite, bedankte sie sich damit, dass sie mir einen schönen festen Schirm zusätzlich auf meinen Einkauf legte. 
           Wer sich zusätzliche Arbeit machen will, kann versuchen, die Deckhaut der Schirme abzuziehen. Ich lasse sie drauf, wasche die Schirme von oben und lasse sie abtrocknen auf Küchenserviette. Vor dem Braten wird der Pilz in geschlagenem Ei gewälzt, das mit Salz und Pfeffer gewürzt wurde. Anschließend hat man Brätlinge, die häufig besser schmecken als ein Steak. 
          Heute Morgen am Fluss lud mich ein Angler ein. Er war am Vortag Pilze suchen gewesen, hatte Steinpilze, Rotkappen, Maronen, Butterpilze und Schirmpilze mit heimgebracht. Seine Frau hatte ihm einige der gebratenen Schirmpilze zum Frühstück am Wasser eingepackt. Weil er mich als einen Laien einschätzte, bewirtete er mich mit der kalten Köstlichkeit. 
           Als ich ihm anschließend das Rezept für das Pilzmehl verriet, war er erstaunt, dass ich auch auf diesem Gebiet Bescheid weiß. 
            Schließlich traf ich am Ende des Spazierganges den 82 Jahre alten ehemaligen Schiffsmaschinisten, mit dem mich eine langjährige enge Bekanntschaft verbindet. Weil er im Sommer gewöhnlich auf der Datsche lebt, sehen wir uns seltener. Da erst vor einer Woche wieder ein 60-jähriger aus der Nachbarschaft auf die andere Seite der Ewigkeit gewechselt war, verständigten wir uns darüber, dass wir beide aus unbekanntem Grund vom Schicksal bevorteilt werden. 
           Wir freuen uns darüber, deshalb zwingen wir uns zur Bewegung, auch wenn ab und an das Zipperlein uns bremsen will. Auf diese Weise haben wir jeden Morgen das Vergnügen, im Spiegel einen guten alten Bekannten wiederzusehen. 
           Er erzählte mir einen Witz, der mit gefiel. Dazu muss man wissen: hier stellen oder setzen sich Männer zum Trinken von Bier oder härteren Sachen gewöhnlich zu dritt an die Tische. 

          Die Ehefrau legt ihrem Mann soeben gebügelte Hosen hin, ein frisches Hemd, sucht die Monatskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel heraus. Er bittet sie in der Tür um etwas Geld. „Wozu brauchst du auf Arbeit Geld?“ „Wenn ich auf dem Heimweg jemanden treffe, kann ich der dritte in der Runde sein.“ „Liebling, komm besser gleich nach Hause. Dann bist du der erste.“ 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





Namenstag

           Gestern war Nataschas Namenstag. Wie immer – ich wusste das nicht. Wurde aber durch meine Anglerfreunde darauf hingewiesen. Um das vorweg zu nehmen: das sind keine Säufer. Aber als ich bei leichtem Morgennebel über dem Fluss mit raschem Schritt auf der Brücke den 82-jährigen einholte, passte ich mich seinem Tempo an. Schneller zu gehen wäre einfach nur unhöflich gewesen. 
           Wir kamen an den Platz, auf welchem Vitalij schon saß und auch schon Fisch gefangen hatte. Boris Petrowitsch an meiner Seite  lächelte verschmitzt und lud mich ein, auf Nataschas Gesundheit einen guten Selbstgebrannten mit ihnen zu trinken. Ich meinte, dass ich zwar mit Natascha verheiratet bin, aber keinen Grund dafür sehe, am frühem Morgen einen zu heben. Ich hätte ja auch keinen Selbstgebrannten dabei, natürlich auch keine „Bierhappen“ (wie ich die „sakuski“ übersetze). 
          Beide grinsten und informierten mich, dass heute Namenstag von Natascha wäre – einer hätte eine Tochter mit diesem Vornamen, der andere eine geliebte Enkelin. Ich wäre bei ihnen der Dritte in der Runde. Sie hätten schon alles vorbereitet – Petrowitsch auch denselbst von ihm gebrannten Wodka mitgebracht. Dazu soll man wissen, dass sich gewöhnlich die hiesigen Säufer „zu dritt“ zusammenfinden. Meine diesbezügliche Bemerkung wurde abgeblockt – wir hätten einen Grund. Also bekam ich meinen Becher mit etwa 80 ml Wodka, dazu ein Stück Brot mit hausgemachter Blutwurst darauf und eine geteilte Tomate. Wir tranken auf unsere lieben Nataschas. Dann setzten wir mit Hund den Spaziergang fort.
                Der Nebel stieg langsam auf – die sich schon herbstlich einfärbende Landschaft kam immer mehr zum Vorschein, glänzte beginnend bunt in der Herbstsonne. Plötzlich fühlte ich ein intensives Brennen in der linken Hand. Unter der zusammengerollten Hundeleine hatte sich eine Wespe eingenistet und mich gestochen. Den Stachel, den sie in der Haut zurück gelassen hatte, konnte ich herausziehen. Das Insekt fiel zu Boden. Wir gingen weiter – die Einstichstelle schmerzte immer intensiver. 
           Daheim wünschte ich meiner Guten etwas zu ihrem Feiertag. Sie konterte: „Wo hast du Alkoholiker am frühen Morgen schon getrunken?“ Nach Bericht mit den besten Wünschen der „Zechkumpane“ vergab sie mir die Entgleisung. Fragte aber sofort: „Was hast du mir noch mitgebracht?“ Ich verstand nicht. „Was hast du da in der Hand?“ Meine linke Hand war außen stark angeschwollen und machte aus der Entfernung den Eindruck, als ob in ihr etwas versteckt war. Ich bemerkte die Entwicklung an der Stelle erst nach dieser Frage und erzählte vom Wespenstich. 
           Ungeachtet dieser „Verwundung“, welche mir gestern das etwas raschere Schreiben am PC unmöglich machte, wurde ich auf den Basar geschickt. Auf dem Weg nach dort saßen „Einzelhändler“ wie üblich am Überweg auf der Allee. Eine von den vorwiegend Frauen hatte einen Korb voll wunderbar fester Rotkappen (Pilze) vor sich, verkaufte das Kilogramm für 3,50 € (35 Hrywna). Ich nahm vier besonders schöne Pilze und schmorte sie anlässlich des Namenstages. Mit Buchweizengrütze dazu – ein echtes Festmahl. 
          Am Nachmittag dann noch der Versuch aus London, uns besonders reich machen zu wollen. Die angeblich seriöse Anwaltskanzlei Andrews&Kurth mit der etwas seltsamen Website  www.andrewskurth.com versuchte mich davon zu überzeugen, dass mir ein ferner Verwandter, der mit Frau und Sohn bei einem Autounfall leider ums Leben gekommen sei, eine beträchtliche Summe hinterlassen hätte. Weil ich schon erstaunt war, das Angebot auf Russisch zu bekommen, sah ich besonders genau hin. Das Geld würde in einem Medienkonzern in Ghana stecken. Den Leuten habe ich meine Verbindung gesperrt. 

Seien auch Sie vorsichtig. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger