Luxus


        Auf der Straße sind - 14 Grad Frost. Nicht gerade umwerfend, aber die Leute sind dennoch dick vermummt. Auf dem Basar kaum VerkäuferInnen an den kleinen Kiosken oder einfach nur rohen Tischen aus Holz, Metall oder Plastik. Es harren dick angezogen an frostig-frischer Luft  nur jene aus, welche mit ihrer Ware nicht umziehen wollen in die Halle - oder denen die Platzmiete dort drinnen zu hoch ist.

        Die Juristin aus dem Nachbareingang stellt die Frage unter ihrer Pelzkapuze hervor: "Ist ihnen nicht kalt?" Meine erstaunte Rückfrage beantwortet sie damit, dass sie meine Bekleidung als "zu leicht" einschätzt. Da ist sie in guter Gesellschaft. Meine Frau meint das auch.
        Daheim diskutiere ich das nicht mehr, sondern brumme nur etwas in den nicht vorhandenen Bart.  Der Nachbarin erkläre ich freundlich, dass ich bei raschem Spaziergang nicht schwitzen möchte. Denn da besteht anschließend die Gefahr, sich nach dem Ausziehen doch zu erkälten. Das Kompliment, konsequent den Kurs auf Abhärten beizubehalten, nehme ich mit Genugtuung zur Kenntnis...

        Eine der wenigen Frauen, die standhaft an ihren Stand aushalten, ist Katja. Die etwas über 40 Jahre alte Verkäuferin von Fisch und Fischprodukten. Seefische, gefroren, eingelegt, gesalzen, geräuchert. Als ich gestern die Konserven vom uns außerordentlich schmackhaften Makrelenhecht (Saira / сайра) bei ihr im Angebot sah, wollte ich mindest eine Büchse kaufen.
        Sie hätte die Packliste noch nicht gelesen, könne den Preis nicht nennen. Ich solle aber die Büchsen nehmen - denn es gäbe dafür immer sehr viele Interessenten. Besonders so kurz vor dem Neuen Jahr. Bezahlen würde ich nicht vergessen - das wisse sie genau.

        Als ich heute meine Schulden bezahlen wollte, nannte Katja einen etwa dreifachen Preis. Ich war schockiert. Sagte das auch. Sie lachte: "Haben sie die Ware? Wollten sie die unbedingt? Werden sie nicht bezahlen?" Ihre Fragen prasselten nur so auf mich ein. Dann begann sie zu lachen, als ich meine Argumente vortrug. "Siegfried, hier ist heute fast kein Mensch. Die Büchse kostet nur 12 Hrywna (etwa 1,20 Euro). Aber ich wollte mich nur ein wenig länger mit einem angenehmen Menschen unterhalten. Ist sonst so langweilig."
        Da musste auch ich lachen.Nach dem Bezahlen gönnten wir uns noch etwas "Luxus menschlichen Umgangs" wie SaintExupery ein gutes Gespräch charakterisiert hatte.

Ihnen wünsche ich ebenfalls so preiswerten, aber aufbauenden Luxus!

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger






Generalprobe Weltuntergang überlebt...


        Wir hatten unsere Abenteuer bei der Fahrt nach Deutschland - beschrieben im Post "Das ist fast unwahrscheinlich..." auf diesem Blog. Von unseren Erlebnissen dort nur zwei: der Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt in Berlin am Sonnabend, dem 08. Dezember 2012 war eine Katastrophe.  Gegen 15 Uhr - ein Glück, dass die ineinander regelrecht verkeilte Masse der Besucher auch auf die Toilette wollte und uns so für die Frauen in die richtige Richtung drückte. Wir Kerle machten gleich auf Solidarität. Von Angeboten ruhig etwas anzuschauen - keine Chance. Mir fiel spontan ein, was der österreichische Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti mit Blick auch auf solche "Spektakel" kurz und knapp, aber deutlich formulierte: "Die Ware Weihnacht ist nicht die wahre Weihnacht."

        Als wir am Kudamm (Gedächtniskirche) den Glühwein a la Heinz Rühmann`s "Feuerzangenbowle" probieren wollten, kamen wir in einen bewärmten Raum. Dort waren auch Frauen anwesend. Unseren wurden Plätze angeboten, genauer hohe Hocker zum Hinstellen an freiem Platz. Erst als unsere beiden Jungs mit dem Glühwein kamen, bemerkten wir, dass wir uns unfreiwillig in den Treffpunkt anders orientierter Männer eingeschlichen hatten. Unter Anderem auch daran, dass sich einige zur Begrüßung oder zum Abschied küssten. Allerdings ist die dort sichtbare rosa Dekoration in der Ukraine das Kennzeichen lesbischer Damen...

        Wenn jetzt jemand voreilig meint, das wäre prägendes Erlebnis für des Titel dieses Post - kein Stück. Wir sehen die Welt inzwischen vorurteilsfreier - ich habe meinen Teil dazu eingebracht. Eine einzige Bemerkung kann das verdeutlichen. Unser Gast formulierte nach dem zweiten Glas voll "Feuerzangenbowle": "Der Glühwein hier schmeckt besonders gut. Wahrscheinlich mit Liebe gemacht." Seine Süße war nicht ein bisschen eingeschnappt, sondern lachte auch.

        Am Morgen des 11. Dezember machten wir uns wieder auf den Heimweg. Im Auto. Die Straßen und Autobahnen in Deutschland und Polen waren gut beräumt, wir kamen zügig voran. Der Grenzübergang diesmal mit etwas Ärger. Pavel hatte seine Probleme mit der westukrainischen "Solidarität" an der Grenzübergangsstelle. Für dran nicht gewöhnte Westeuropäer: das ihnen schon nicht mehr bekannte Warten vor Grenz- und Zollkontrollen bei Überschreiten von Staatsgrenzen führt dazu, dass lange Warteschlangen entstehen und allgemein aggressive Stimmung herrscht. Jede/r will "rascher durch" - verständlich.
        Die Fahrer aus dieser Region kennen sich häufig untereinander gut. Also werden in der Warteschlange kleine Lücken gelassen. Kommt ein Kumpel von weit hinten heran und fragt per Handy nach, bekommt er die Position vorne mitgeteilt. Dann fährt er - manchmal auch sie - an den anderen vorbei und ordnet sich so ein, dass er bei einer Vorwärtsbewegung der Schlange sich in den vorgemerkten Bereich einschieben kann. 
        Weil das aber kein Einzelfall ist, da nicht wenige Leute den "kleinen Grenzverkehr" als fast einzige Erwerbsquelle nutzen (Preisgefälle oder Schmuggel), sind die "Zwischenschieber" für nicht gerade wenige Leute ein Ärgernis. Wenn da ein an dieses Verhalten nicht gewöhnter Heißsporn mit im Auto sitzt, welcher am liebsten seine persönlichen Regeln auch mit den Fäusten durchsetzen möchte, nervt das ein wenig...

        Der so auf rund zwei Stunden verzögerte Grenzübertritt hatte zur Folge, dass im Hotel auf ukrainischer Seite gleich nach der Grenzstation keine Betten mehr frei waren. Also die rund 70 km nach Kovel fahren, der ersten Stadt auf unserem weiteren Weg. Dort kamen wir in einem Hotel unter, das die Erneuerungswelle zu den Fußball-Europameisterschaften unbeschadet überstanden hat. Zum Preis von 6 € pro Nase konnte wir eine Nacht in der Vergangenheit verbringen. Zwar alles sauber - aber abgenutzt und abgewohnt. Die Kleiderhaken teilweise abgebrochen, Betten quietschten unerträglich, die Wandfarbe zutiefst pessimistisch dunkel, Warmwasser ließ sich den Hähnen nicht entlocken... Mir sehr bekannte Sowjetnorm.

        Wir haben aber geschlafen und uns danach wieder auf den Weg gemacht. Die Straßen teilweise normal beräumt oder zumindest durch den Fahrzeugverkehr schneefrei gemacht - bis wir in die Zentralukraine einfuhren (etwa das Gebiet von Shitomir). Dort und auch in Kiew hatte es vorher heftiger geschneit. Die Räumkräfte hatten es mit ihrer Technik nicht schaffen können. Relativ zentrale Straßen noch leidlich befahrbar - aber wir mussten auch Nebenstraßen nutzen. Mit mehr als 40 km/h nicht zu befahren. Die Heimkehr begann sich zu verzögern...

        Als wir etwa 30-35 km von daheim entfernt waren, rief Pavel plötzlich: "Mutti,gib Gas!" so laut, dass sie das instinktiv auch tat. Der unter seiner Schneelast fallende Baum erwischte uns aber doch. 
        Ergebnis: das Dach eingebeult, auch die Motorhaube und die Türen der rechten Seite, beide Seitenspiegel abgerissen, der Kühlergrill zerlegt und die Frontscheibe geplatzt. Wir drei gesund, aber geschockt. Vor uns und dem Hindernis Baum hielten auf beiden Seiten sofort einige Fahrzeuge  Man bot uns Hilfe an, die wir dankend ablehnen konnten. Allerdings überließen wir es den anderen, sich die Straße frei zu machen.

        Das war unsere Generalprobe für den im Verlauf meines Lebens schon so häufig vorhergesagten Weltuntergang. Hiermit versichere ich: sie ist positiv verlaufen. Da muss die Vorstellung gegen den Baum gehen. Findet einfach nicht statt... --)).

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





        

Das ist fast unwahrscheinlich...


        Als wir am Morgen des 6. Dezember 2012 im Auto saßen, um durch den Schneematsch in der mittleren Ukraine nach Berlin zu fahren, leuchtete plötzlich die Lampe am Tableau, welche einen Defekt am Antiblockiersystem signalisiert. Wir waren geschockt. Denn am Vortag hatte Pavel einen Check durchführen lassen, damit wir beruhigt die etwa 1500 km lange Reise auch unter widrigen äußeren Umständen antreten konnten. Also Anruf bei den "Meistern". Die Antwort: "Kommt vorbei!" Das führte uns von der Reiseroute weg - aber was macht man nicht alles im Interesse der Sicherheit.

        An der Strecke durch die Stadt lag eine Tankstelle mit preiswertem Gas, Natascha bog zu der ab. Als sie nach dem Tanken wieder den Motor anließ, blieb das ABS-Lämpchen dunkel. Wir fuhren los Richtung Berlin.
        Der Wintereinbruch in der Ukraine hatte zuerst Schneematsch gebracht - sehr schöne Schlitterbahn, wenn nicht geräumt wird. Nach etwa 60 km kamen wir auf die von den LKW "beräumte"Trasse und konnten fast bis an die polnische Grenze mit wenigstens 90 km/h fahren. Im Bereich PKW auf ukrainischer Seite keine Schlange - wir kamen fast bis an die Zollkontrolle durch. Da wir diesmal nicht einmal Wodka für Freunde dabei hatten, lotste man uns in den "Grünen Korridor". Wir kamen so an einer Riesenschlange ausreisender PKW vorbei, die uns mindestens drei Stunden Wartezeit gekostet hätten. Denn auf polnischer Seite war wegen Nikolaustag zwar Feuerwerk zu sehen, aber keine besonderer Arbeitseifer. Wir jedoch kamen auch dort rasch durch. 

        Nur hatten wir die Rechnung ohne den Fakt gemacht, dass ich anscheinend - fast unwahrscheinlich - Überraschungen anziehe. Etwa 20 km nach der Grenze, auf gut beräumter Straße plötzlich ein Knall, als ob jemand einen Stein auf das Auto geworfen hatte. Wir erschraken - und Natascha meldete: "Es ist was mit der Heckscheibe." Angehalten, sahen wir die Bescherung. Aus unbekannten Gründen war die Heckscheibe "zerplatzt". Nur die Folie zum Tonieren hielt sie zusammen. 
        Vorsichtig fuhren wir noch 130 km zu unserem Motel. Am nächsten Morgen zwei weitere Überraschungen. Der linke Vorderreifen hatte viel Luft abgelassen. Weil meine Frau sich entsann, dass in etwa 8 km Entfernung eine Reifenwerkstatt war, fuhren wir langsam dorthin. Mit einer weiteren "Behinderung". Die Düsen der Scheibenwaschanlage waren vereist.  
        Wir waren zum Glück auch die ersten Kunden. Dort wurden beide Defekte behoben - für 2,50 €. Die Vereisung mit Übergießen der Düsen mit heißem Wasser - einfach, elegant und rasch. Auch bekamen wir nach einem kundenfreundlichen freiwilligen Anruf des Meisters in Zwolen die Empfehlung, doch in Radom die Scheibe wechseln zu lassen. Etwa 3 Stunden Zeiteinbuße und nur 150 € für Material und Arbeit. Für uns aber doch Geld...

        Dass wir später als angemeldet zu unserem Quartier kamen, hatte auch noch ein wenig Unannehmlichkeiten mit sich gebracht. Allerdings waren wir froh, fast erst gegen Mitternacht ins Bett zu kommen. 

        Wer diesen Blog ein wenig verfolgt, wird zustimmen, dass mein Leben wirklich von Erlebnissen durchsetzt ist, die sich aneinander reihen. Nicht immer spektakulär, aber so "beachtlich", dass ich mir das Interesse am Leben nicht abgewöhnen muss.

        Vielleicht schauen auch Sie ein wenig zurück - oder unter gleichem Blickwinkel auf das, was auch ihr Leben einzigartig und interessant macht...

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





Wieder Moskau...

      
Die Entscheidung, in dieser Jahreszeit nach Moskau zu reisen, war nicht einfach. Ich hätte absagen können - dann wäre ein anderer Dolmetscher eingesprungen worden. Allerdings bin ich jemand ohne Sitzfleisch. Auch hungrig auf Abenteuer. Die mich anscheinend auch suchen und finden...
Drei Tage vor der Abreise kam eine Bekannte meiner Frau zu uns - Russin aus einer Stadt rund 400 km hinter Moskau. Sie bot an, mit ihr und ihrer Familie im Auto die Hinfahrt zu bewältigen. Die Einsparung: 70 Euro. Lässt man doch nicht aus - oder?
Am russischen Grenzposten das erste - positive - Erlebnis. Wenn Sie bei Wind und leichtem Schneetreiben fast auf freiem Felde stehen, um den winzigen "Immigrationsschein" auszufüllen, kann es vorkommen, dass die Visanummer des schon ungültigen Visas notiert wird. Das bemerkte ich. Die junge Beamtin hinter dem Schalter schlug mir hilfsbereit vor, die Eintragung zu ändern, den Schein zu Ende auszufüllen. Ich solle nur unterschreiben und mich wieder ins Auto setzen. Höflich bedankte ich mich - eine seltene, sehr angenehme Geste einer Beamtin!
Die winterliche Einöde der durchreisten Landschaft wirft auf eine eigenartige Weise die Frage auf, wie eben diese Weite von Menschen als Heimat empfunden werden kann... 

Gegen 20 Uhr Ortszeit kamen wir an den Stadtrand von Moskau. Dann trat ein, was noch vor einiger Zeit in einer speziellen Redewendung deutscher Umgangssprache so klang: "Ich denke, mich streift ein Bus." Nur: wir streiften ihn!
Zugegeben: der Busfahrer fuhr auf dem linken Strich der Fahrbahnbegrenzung. Aber der Fahrer unseres PKW, schon müde nach fast 1000 km hinter dem Steuer, zog etwas intensiver nach rechts, als die Situation das erforderte. Ergebnis: Blechschaden.
Die Verkehrspolizei kam relativ rasch – Kunststück, der Posten nur etwa 100 m entfernt. Nach einigen Aufnahmen der Unfallstelle und der Schäden das Kommando: „Straße räumen, am Posten einparken.“
Aus der Stellung des rechten Außenspiegels war eindeutig zu sehen: gerammt hatte der PKW. Aber sein Fahrer wollte Recht haben und bekommen. Ich hatte keine Lust, an der sinnlosen Streiterei teilzunehmen. Denn es war inzwischen 21.30 Uhr geworden. Mein von meiner Natascha benachrichtigter 88-jähriger Freund wartete schon ungeduldig. Denn ich wusste nicht einmal, wo etwa unsere Unfallstelle lag, bezogen auf seine Wohnung. Als ich die Polizisten fragte, meinten die: „In 50 m geradeaus beginnt der Lenin-Prospekt. Mit dem Bus immer geradeaus.“

Dank, Verabschiedung, ab durch den Matsch auf dem unbefestigten Straßenrand bis zur Bushaltestelle. Die Auskunft: wir biegen dort und dort ab. Also ein Taxi gestoppt. 700 Rubel, knapp 20 Euro würde es kosten. Bis vor die Haustür. Mit dem armenischen Fahrer, etwa 50 Jahre alt, gab es eine angeregte Unterhaltung. Übersiedler nach Moskau aus der Gegend, wo es in den 90ßer Jahren Kampfhandlungen um Berg-Karabach gab. Ein Schicksal…
Viktor hatte mit dem Abendessen gewartet. Wir tafelten bescheiden, denn er hatte wegen des Wetters keine Einkäufe mehr tätigen können, nachdem meine liebe Frau ihn von meiner vorgezogenen Reise informiert hatte. Ein Teil des Gastgeschenks – der ukrainische Markenwodka – kam zu seinem Recht. Welskopf und Zander wurden am nächsten Tag zu einer köstlichen Fischsuppe – „ucha“ auf Russisch und vom Hausherrn gebratenem Fisch vorgezogen. Eine Gewohnheit aus den Hunger- und Kriegsjahren in der Sowjetunion. Damals wurden lediglich manchmal Bratkartoffeln mit dem ebenso seltenen Sonnenblumenöl als Festschmaus zubereitet.

Der Besuch begann also wie schon so häufig: ich hatte etwas zu erzählen - diesmal "Abenteuer der Landstraße". 
Am nächsten Tag begann das, was bei vielen Moskauern und auch bei mir den Tagesablauf etwas durcheinander brachte. Intensiver Schneefall. Obwohl 12.000 Einheiten Räumtechnik im Einsatz waren und Oberbürgermeister Sobjanin zu beruhigen versuchte: die Moskauer Kraftfahrer waren ruhig wie in jedem Jahr. Die Stadt ist schon zu anderen Jahreszeiten fas ständig im totalen Stau - nun ging fast nichts mehr - genauer: fuhr fast nichts mehr. Dass ich zur geschäftlichen Verabredung trotz vorsorglich 2 Stunden vorgezogener Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Odinzowo lediglich 20 Minuten zu spät kam, wurde von den Einheimischen fast als Heldentat gewertet.

Was ich an Informationen zum aktuellen Russland bekam, ist auf meinem Blog 
zu lesen und kommt auch hier als Fortsetzung.


Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger










Erinnerungen meines Freundes



Drei Ereignisse

        Damals war ich noch ein sehr junger Chirurg, allerdings mit Erfahrungen aus dem Dienst bei der Marine. Meine Vorgesetzten mussten mein Talent als Arzt und als Lehrer mit bildhafter Sprache erkannt haben. Ich bekam den Auftrag, jüngeren Kollegen Vortrag zu halten über eine Operation an Bord kleiner Kriegsschiffe, die nicht eben selten war. Die Entfernung eines entzündeten Blinddarms. Da geht es um zweckmäßige Entscheidungen in kurzer Zeit, um Menschenleben zu retten. Der OP-Tisch ist allerdings nicht selten jener, an dem die Mannschaft das Essen bekommt – nicht der einer Klinik. Die Aufgabe wurde zur Zufriedenheit des Chefs und meiner eigenen erledigt.
        Einige Jahre später, ich war diensthabender Chirurg im Burdenko-Krankenhaus (damals zentrales Krankenhaus der Sowjetarmee), wurde ich mitten in der Nacht in die Kommandozentrale der sowjetischen Kriegsflotte befohlen – die sich damals noch in Moskau befand. Dort wurde ich über Sonderleitung mit einem unserer Schiffe im Indischen Ozean verbunden. Als ich mich meldete: „Oberstleutnant des medizinischen Dienstes Tscherkaschin“ kam die erstaunt-erfreute Antwort des dortigen Schiffsarztes: „Viktor Wassiljewitsch, sind sie es?“ Er hatte ein Problem. Der Patient war mit den Beschwerden erst sehr spät zu ihm gekommen. Die Gefahr einer Peritonitis bestand (Durchbruch an der entzündeten Stelle in den Bauchraum). Obwohl ich etwas Versäumtes bemerkt hatte, sagte ich dem Kollegen zur Beruhigung: „Sie haben alles richtig gemacht. Jetzt empfehle ich … Das folgende war Ärztedialekt, den brauchst du nicht aufzuschreiben. Die OP verlief nicht unproblematisch, aber erfolgreich.“
        Etwa ein Vierteljahr später kam ein Marineoffizier in mein Arbeitszimmer, meldete sich vorschriftsmäßig. Es war der Kollege, dem ich mit meinem Rat beigestanden und seine Reputation als Schiffsarzt aufrecht erhalten hatte. Er war in seinem Urlaub und vom Dienstort Wladiwostok mit dem einzigen Ziel nach Moskau gekommen, um sich zu bedanken. Ein nicht von der Regierung verliehener Orden.“

        Hier ist eine kleine Vorgeschichte nötig. Als zweites Ereignis. Wir hatten häufig  Veranstaltungen zur Weiterqualifizierung zu besuchen. Eine von denen war für mich prägend. Ein sehr betagter HNO-Professor empfing an dem Tage vor versammelter Mannschaft seinen belgischen Kollegen, mit welchem sie auf ihrem Fachgebiet als europäische Mitbegründer neuster Entwicklungen bekannt waren. Sie hatten sich jedoch vorher immer nur schriftlich ausgetauscht.
        Professor N. begrüßte seinen Gast und wandte sich mit ihm gemeinsam zwei Frauen zu, die wir bis zu diesem Moment kaum beachtet hatten.
        „Hier stelle ich ihnen meine wichtigste Mitarbeiterin vor – meine langjährige OP-Schwester.“ Er nannte ihren vollen Namen – der Gast begrüßte die Dame mit Handkuss. „Hier ist die zweite wichtige Frau in meinem Bereich – die Oberschwester (mit vollem Namen) hält darin ideale Ordnung.“ Auch sie wurde vom Gast mit Handkuss begrüßt. Danach wendete sich der Professor zum Auditorium und sagte: „Und das sind alle anderen!“
        Da begriff ich etwas für meine weiteres Berufsleben Wichtiges: die wesentlichen Personen im Hintergrund verdienen es, an unseren Erfolgen auch öffentlich beteiligt zu werden.
        Aber auch etwas Anderes habe ich später als Chef der Abteilung Orthopädie-Chirurgie immer beherzigt: Mitarbeiter sollen öffentlich gelobt, aber einzeln kritisiert werden. Besonders Frauen sind dafür dankbar. Wenn so eine „Sünderin“ mit rotem Kopf bei der Oberschwester herauskam, hat das gewirkt – aber nie auf das Arbeitsklima im Ganzen. Deshalb gab es über Jahrzehnte währen meiner Tätigkeit in dieser Abteilung nicht eine einzige Beschwerden bei unseren Übergeordneten.
        Außerdem war es bei uns üblich, für meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch dann da zu sein, wenn sie Probleme hatten, welche durch meinen Beistand beseitigt werden konnten. Deshalb berührte mich eine mir nach meinem Weggang in die Rente durch einen anderen Kollegen zugetragene Meinung aus der Abteilung tief: „Viktor Wassiljewitsch war ein Mensch.“

        Nun zu einem mit allem hier verbundenen Vorfall. Wir lagen in einem kleinen indonesischen Hafen, als sich bei einem Matrosen die Diagnose „Blinddarmentzündung“ bestätigte. Ich bat mit meinem unvollständigen Sprachschatz des dort üblichen holländisch-jiddischen Gemisches den Chefarzt des dortigen Spitals, mir seinen Operationssaal zu Verfügung zu stellen und, wenn möglich, seine OP-Schwester als Assistentin. Das Operationsbesteck hätte ich an Bord und würde es nutzen. 
        Da ich mit den dortigen Betäubungsmitteln nicht vertraut war, nahm ich die Operation unter örtlicher Narkose vor. Die Herstellung der Lösung aus destilliertem Wasser und pulverisiertem Novocain war bei uns damals schon so erprobt, dass sich der Kollege, welcher auch seinen Anästhesiologen unserem Team beigeordnet hatte, später darüber erstaunt zeigte. Mit der zierlichen und anscheinend sehr jungen und vermeintlich unerfahrenen OP-Schwester klärte ich vorab nur, wie „dicker Faden“ und „dünner Faden“ für die Nähte von mir bezeichnet werden würden.
        Dem Matrosen hatte ich vorab die Angst genommen, indem ich ihm erläuterte, wie oft nicht nur ich, sondern auch viele andere sowjetische Chirurgen diese damals neue Art der Betäubung schon angewandt hätten.
        Die Operation verlief sehr befriedigend, wenn auch nicht ohne Komplikation. Was mich am meisten freute, war die stille Professionalität der Indonesierin. Wir wirkten so zusammen, als hätten wir schon jahrelang gemeinsam im OP gestanden. Ohne ein Wort reichte sie in jeder Sekunde das, was ich beim Stand der Operation gerade brauchte!
        Am folgenden Tag fuhr ich in das Krankenhaus, um meinen Patienten zu besuchen. Mit ihm war alles in Ordnung – wir haben ihn am 5-ten Tag auf das Schiff geholt.
        Der Chefarzt, und seine Mannschaft waren beieinander, die zierliche OP-Schwester überreichte mir das inzwischen sterilisierte OP-Besteck in seinem metallischen Behälter. Ich bedankte mich offiziell für die Unterstützung, erklärte eindeutig, wie hoch ich die Hilfe der OP-Schwester einschätze. Dann überreichte ich ihr das gesamte Operationsbesteck. Es hatte nach unseren strengen sanitären Normen trotz seiner erhaltenen Gebrauchsfähigkeit abgeschrieben werden müssen.
        Ob die junge Frau es daheim als Erinnerungsstück aufbewahrt hat, bezweifele ich. Aber mich materiell anders zu bedanken, erlaubte mir unser damaliges „Taschengeld“ nicht. Wenn sie das Besteck also veräußert hat, konnte sie ihre materielle Lage etwas aufbessern. Wichtig war mir und hoffentlich auch ihr die öffentliche neidlose Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation.

        Diese Notizen über ehrliche Arbeit habe ich deshalb aufgeschrieben, weil bei meinem Besuch in Moskau Ende November so viele Informationen über Unehrlichkeit auf mich einprasselten, dass ich die Goethe-Worte beherzigen will: "Wahrheitsliebe zeigt sich darin, dass man überall das Gute zu finden und zu schätzen weiß."

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger