Bilanz zweier Tage

Gestern war Natascha sehr beschäftigt. Denn ein guter Bekannter hatte uns ohne Grund aufsitzen lassen. Das für Sveta - unsere Tochter - bestimmte Geschenk war nicht fertig geworden. Als die ungehaltene Mutti sich aufregte, sagte ich ruhig: "Bisher war das dein Problem. Wir lassen ihn nun auf seiner Ware sitzen. Es wird sein Problem." Das Argument gefiel ihr - denn wir lassen ihn los. Ein unzuverlässiger Bekannter weniger.
Meine Frau suchte im Internet nach etwas Entsprechendem und fand das. Aber weil der 10. Mai hier ein arbeitsfreier Tag war, bekam sie das erst heute.
Dafür hatte sie an anderer Stelle Glück. Der Verkäufer von Ersatzteilen aus gebrauchter Technik sagte seiner guten Kundin zu. Sie fuhr zu ihm - etwa 30 km weit. Als sie das Teil haben wollte, fragte er nach der Erscheinung des Defektes. Weil er auch einen Skoda Octavia fährt, konnte er die Diagnose der hiesigen Werkstatt ablehnen. Er baute ihr ein ganz anderes Teil in das Kraftstoffsystem ein - unser Fahrzeug sprang an wie neu. Er nahm nur den verabredeten Preis für das Ersatzteil, nichts für seine Arbeit.

Der heutige Tag begann wie immer: Morgenspaziergang mit Hund. In der Nähe zum Übergang der Allee auf den Basar hatten sich wie jedes Frühjahr die Verkäufer von in eigenen Gärten oder kleinen Gewächshäusern, ja gar nur auf den Simsen der Fenster in den kleinen Wohnungen selbst herangezogenem Pflanzgut aufgebaut. 
Weil ich den Hund beobachtete, damit das frei laufende Tier keinen Schaden anrichtete, sah ich die Person nicht. Welche mich plötzlich anrief: "Guten Morgen Siegfried, wo waren sie so lange?" Meiner Frau sehr ähnlich, groß, füllig, dazu auch eine Natascha. Sie verkaufte bis Frühlingsbeginn regelmäßig Äpfel in der Halle des Bauernmarktes. Dort hatte ich sie ebenfalls lange nicht gesehen. Als ich stehen blieb, sagte sie: "So lange waren sie nicht mehr an unserem Stand, dass ich schon richtig Sehnsucht danach hatte, sie zu sehen." 
Für das Kompliment bedankte ich mich. Allerdings fügte ich hinzu, dass die Zeit lange vorbei sei, wo Frauen nach mir Sehnsucht hätten. Sie lachte und erklärte, dass die von mir regelmäßig erzählten Stories ihr besonders gefallen hätten. Da erinnerte ich ich mich an einen Witz, erzählte ihr den. 
Ein alter Jude liegt im Sterben. Aus der Küche duftet es nach "gefülltem Fisch" - eine typisch jüdische Delikatesse. Er ruft mit leiser Stimme den Enkel: "Bitte die Oma, dass sie dir ein Stückchen vom Fisch für mich gibt." Der Knabe kommt wieder. "Die Oma gibt nichts. Sie hat gesagt, dass der Fisch für danach ist." 
Wir lachen beide und wünschen einander Gesundheit. Als ich nach einer halben Stunde zurück komme, hat sie ihre Kohlpflanzen schon verkauft, ist fort. 
Nach etwa 200 m sind wir an der Reihe Kioske in Nähe unseres Wohnhauses. Nur der Zigarettenladen ist geöffnet - und Olga, unsere Freundin, war pünktlich im von ihr besetzten. Als ich sie nach dem Morgengruß dafür lobe, meint sie: "Das sollten sie doch wissen, dass ich einmalig bin." Da frage ich, ob ich sie in Zukunft mit "Unsere Einmalige" anreden soll. Wir freuen uns beide über das unvorbereitete wohlgemute Wortgefecht. Das sie ein wenig hat erröten lassen.
Als ich die Tür zum Vorflur aufschloss, stand mir plötlich unser guter Nachbar gegenüber. Wie man das hier sagt "ohne Gesicht" - auf Deutsch etwa "mit versteinerten Zügen". Er fragte nach meiner Frau. Ich meinerseits wollte wissen, was denn geschehen sei. "Heute in der Frühe ist meine Galina verstorben." Einen Augenblick stand ich reglos. Dann umarmte ich ihn fest, wortlos, für gewisse Zeit. Er verstand. 

Natascha kam auf meinen Ruf hin, hatte sich flüchtig den Morgenrock übergeworfen. Sie ist gleichaltrig mit der Verstorbenen. Galina war eine ruhige, freundliche Frau, eine fürsorgliche Mutter und Oma. Wir werden erst später die Ursache ihres Todes erfahren.

Am Nachmittag eine gute Nachricht. Pavel hat sein Visum bekommen. Für eine befristete Zeit. Wir können also zu dritt zu Svetlanas Geburtstag fahren. Deshalb können wir morgen nicht an der Beerdigung teilnehmen. 

Auf dem Hausflur steht bereits der Sargdeckel. Galina ist im Wohnzimmer aufgebahrt. Wir haben uns mit einer tiefen Verneigung von ihr verabschiedet.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 




 

Begegnungen

Das geschah noch vor meiner vorerst letzten Reise nach Deutschland. Genau am dritten März 2015. Wir waren mit dem Hund unterwegs wie jeden Morgen. In Nähe einer Straßenkreuzung verlor ich ohne jede Vorankündigung das Bewusstsein. 
Als ich erwachte, hing ich in den Armen zweier Personen, die mich in das Auto der Schnellen Medizinischen Hilfe hoben. Sie hatten das herbeigerufen, als sie verstanden, dass der ältere Herr keinesfalls total betrunken war. 
Mein Handy klingelte Sturm. Meine Frau hatte „über vier Ecken“ erfahren, dass ich mich "auf der Allee herumwälze" und forderte eine Erklärung, warum ich sie nicht angerufen habe. Der Einwand, dass ich bei Ohnmacht keine Gespräche führen könne, zählte nicht. Denn ich sei ja jetzt am Apparat. Die umwerfende weibliche Logik. 
Weil wir nur einige Wegeminuten vom Krankenhaus mit Notfallstation weg wohnen, war sie schon dort, als der Krankenwagen vorfuhr. Sie begleitete mich auf allen meinen Wegen – wie das hier möglich ist. 
Diagnosen nach entsprechenden Untersuchungen: keine Anzeichen für Herzinfarkt oder Schlaganfall. Vor die Wahl gestellt, sich stationär einweisen zu lassen oder einige Tage daheim das Bett zu hüten und verordnete Medikamente zu schlucken, entschieden wir uns für hauskrank. 
Als ich vier Tage später auf dem Basar erschien, wurde ich besonders herzlich von einer Verkäuferin an einem Gemüsestand begrüßt. Sie fragte sofort nach meinem Befinden. Dabei erfuhr ich, dass ihr Mann die Ambulanz gerufen hatte. Er war auf dem Weg zum Basar, als er mich umfallen sah. Bei beiden bedankte ich mich herzlich. Beruhigte sie auch durch mein Erscheinen. 
Etwa 10 Tage später grüßte mich eine nette junge unbekannte Frau. Ihr antwortete ich höflich. Erstaunt war ich, als sie sich nach meiner Gesundheit erkundigte. Es stellte sich auf meine – unhöfliche – Gegenfrage heraus, dass sie die zweite Person war, welche mich mit in die Ambulanz verfrachtet hatte. Höflich bedankte ich mich auch bei ihr und entschuldigte mich auch, dass ich so eine reizende Dame nicht in Erinnerung behielt. Sie freute sich über das getarnte Kompliment. Wir wünschten einander Gesundheit und trennten uns im Einvernehmen. 

Der Tag nach meiner Rückkehr aus Deutschland war ebenfalls ein „Tag der Begegnungen“. Da begrüßte unsere gute Bekannte und Kioskverkäuferin Olga mich mit den Worten: „Alles Gute zur Heimkehr.“ 
Da ich mehr als 20 Tage abwesend war, trafen viele Bekannte mich mit den Worten: „Wie viele Winter, wie viele Sommer?“ Das ist eine Grußformel, welche gewöhnlich nur gute Freunde zu hören bekommen. 
Die meiste Freude machte mir mein Stiefsohn mit dem Bericht, dass er beim Spaziergang mit Freundin und Hund zum orthodoxen Osterfest am Fluss zu beider Erstaunen von vielen Leuten gefragt wurde, wo denn der eigentliche Herr des Hundes sei. 

Trotz aller Probleme hier in der Ukraine bin ich wieder hergefahren und echt „nach Hause gekommen“. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger