Was ist Ewigkeit?


           Heute Morgen waren wir mit unserem Hund an einer Stelle vorbeigekommen, wo der frische Kadaver  so eines herrenlosen Tiers herumlag – von einem Fahrzeug an den Straßenrand geschleudert.
            Etwas später gab mir eine Bekannte auf dem Basar ein kleines Päckchen – darin waren einige Kekse und Schokoladenkonfekt. „Heute ist der neunte Tag.“ sagte sie dazu. Weil sie arbeiten muss, wollte sie so sichern, dass Freunde und Bekannte bei einer Tasse Tee ihres verstorbenen Sohnes gedachten. Am neunten Tag, wie es die Sitte will.
         Diese so deutliche Konfrontation mit der Ewigkeit treibt mich an die Tastatur meines Notebooks.

     Vor einem Jahr war ich von einer Reise zurückgekommen, als wir zur Beerdigung gebeten wurden. Die Mutter unserer Freundin war gestorben. Mit Vornamen Maria. Zur feierlichen Erinnerung an sie wurde wie hier allgemein üblich an ihrem Todestag ein Mittagessen gegeben. Zu dem waren ohne besondere Einladung alle gebeten worden, welche sie auf den Friedhof begleitet hatten.
     Als wir kurz vor 13 Uhr in der kleinen Gaststätte eintrafen, waren fast alle Teilnehmer der Feier bereit anwesend. Nach Ablegen von Mänteln und Jacken bekam jeder eine recht lange, jedoch sehr dünne Wachskerze in die Hand. Sie war in eine dünne weiße Serviette gehüllt, damit der sie Haltende nicht mit Wachs bekleckert wurde. Ich wollte sie in die Rechte nehmen – meine Frau machte mich darauf aufmerksam, dass die in der linken Hand zu halten sei.
     Der in eine golden scheinende Soutane gekleidete Priester begann die Messe. Etwa 15 Minuten dauerte sein relativ eintöniger Sprechgesang. Weil das Ukrainische für mich nur langsam gesprochen einigermaßen verständlich ist, habe ich außer dem recht häufigen „Herr sei uns gnädig!“ und hin und wieder den Namen der Verstorbenen nichts verstanden. Allerdings kann da manchmal auch die Jungfrau Maria gemeint gewesen sein. Mit der Zeit fiel mir auf, weshalb die Kerze links zu halten gebräuchlich ist. Die rechte Hand wird zum regelgerechten Bekreuzigen gebraucht.
      Irgendwie machte sich in der sehr gefassten Situation das moderne Leben bemerkbar. Ein nicht ausgeschaltetes Handy verlangte gebieterisch danach, ausgeschaltet zu werden. Die Besitzerin hatte Probleme, es rasch zu finden und zum Schweigen zu bringen…
     Ehrwürden sprach zum Abschluss mit allen gemeinsam das Vaterunser. Danach wendete er sich den nächsten Verwandten zu. Diese baten erst einmal zu Tisch.
      In dem Ablauf war zu Beginn etwas anders als vorgesehen passiert. Tochter Natascha bemerkte, dass vor das Bild der Verstorbenen weder das Gläschen Hochprozentiger noch der Teller mit einer Scheibe trockenes Brot platziert worden waren, was sie schleunigst nachholte. Der Priester bat seine Schwestern und Brüder anschließend, vor dem Mahl gemeinsam zu beten. Ich stand natürlich gemeinsam mit allen auf.
     Die Tafel war reichhaltig gedeckt – das Reis-Rosinen-Gericht „kolowo“, von dem drei Teelöffel voll zu Beginn des Schmauses gegessen wird, stand sichtbar bereit. Alle Trinksprüche galten der Verstorbenen. Ausgetrunken wurde, ohne vorher anzustoßen.

     Natürlich weiß ich, was sich gehört. Aber sowohl das „Ewiges Gedenken“ des Priesters – die Worte gehören zum kirchlichen Ritual – als ähnliches auch von Einzelnen der Gedenkgemeinde rufen bei mir eine gewisse Abneigung hervor. Natürlich ist es verlockend zu glauben, dass man dich „ewig“ im Gedächtnis behält. Nur frage ich mich, wie lange dann die Personen leben wollen, welche dieses Andenken bewahren könnten?
      Ja, Goethe und Einstein haben sich durch ihr Lebenswerk gesellschaftliche Anerkennung und Erinnerung geschaffen. In dieser modernen Welt bröckelt ihr Bild jedoch mit der Zeit auch in den gesellschaftlichen Schichten, welche von ihren Leistungen nicht berührt werden.
     So lächle ich in mich hinein. Über die so geäußerte  menschlichen Eitelkeit selbst im Angesicht der einmal alle erwartenden Vergangenheit. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger