Brief 3 an uns alle ...


 Liebe Leser,

diese Geschichte zu übertragen, ist nicht ganz einfach.
Mir zumindest gehen die Gedichte mit dem ihnen verbundenen Schicksal unter die Haut. Weil ich selbst keine Verse schreibe, kann das Übertragene ungeschickt wirken. Bitte um Verständnis.

Weiter zu Sonja.

Gewöhnlich meinen Personen, welche erstmals mit von Sonja Geschriebenem bekannt werden, dass der Autor ein Erwachsener ist. Dann wundern sie sich sehr, wie ein 13-jähriges Mädchen Folgendes schreiben konnte:

„Was zwingt kleinste Teilchen aus unserem Leben
so direkt in die Unsterblichkeit zu streben?
Getrennt durch Sterne und Jahrhunderte,
werde ich mit ihnen dort vergehen.
Jedoch, verschwindend, lasse ich im Buch des Weltalls
ganz deutlich meine Striche stehen.
So, in jedem Augenblick und selbst zu jedem der Atome,
sind Brücken zwischen Ewigkeit und mir geschlagen.“


 

               Gedichte und Prosa von Sonja in einem kleinen Büchlein

Die im vorhergehenden Post vorgestellten Aphorismen zeigen ebenfalls, dass Sonja die Welt mit anderen Augen wahrnimmt als die Mehrheit aller Kinder. Autist sein – das bedeutet im der direkten Übertragung aus dem Lateinischen „in sich gekehrt sein“. Dieser psychische Zustand bei Menschen ist von den Spezialisten noch nicht endgültig entschlüsselt. Während bei einigen das lediglich Unglück bedeutet, gibt es Autisten mit überdurchschnittlicher Begabung, die auch beruflich sehr erfolgreich sein können (Inselbegabung). Fast ein Viertel der Programmierer bei „Microsoft“ sind Autisten.

Sonja ist mit der schweren Form des Autismus konfrontiert. Die ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass emotional-willensbetonte Komponenten gestört waren. Sie konnte neben einem gefüllten Teller sitzen und vor Hunger laut weinen. Ihre Mutter musste kommandieren: den Löffel nehmen, Suppe schöpfen, Löffel mit Suppe zum Mund führen …
Sie sprach nicht, erschrak vor fremden Personen …

In einer Selbsthilfe-Gruppe mit Sonja war der Junge Lonja. Er las bereits mit zweieinhalb Jahren, zog im Alter von 5 Jahren im Kopf die Kubikwurzeln aus Zahlen – eine Aufgabe, welche Erwachsene gewöhnlich nur mit Taschenrechner lösen können. Äußerlich machte Lonja einen recht außergewöhnlichen Eindruck – ging in die Hände klatschend die Straße entlang, sprach mit sich selbst. Wenn er stolperte, musste er unbedingt umkehren und das Wegstück erneut zurücklegen. Das tat er selbst auf sehr belebten Magistralen, weswegen er einige Male fast unter Autos geraten wäre. Hier kann an den mit einem Oscar ausgezeichneten Film „Der Regenmann“ erinnert werden, in welchem Dustin Hoffmann den Autisten spielte. Der kam bestens in seiner Zahlenwelt zurecht, viel besser als mit dem realen Leben, weshalb ihn seine Eltern in eine Heilanstalt gaben. Lonjas Eltern haben ihr Kind nie versteckt, sondern so wie sie es vermochten – gemeinsam mit den Psychologen – sich befleißigt ihm bei der Adaption an die Gesellschaft zu helfen.

Sie erzielten dabei phänomenale Erfolge. Lonja hat die Schule sehr erfolgreich beendet. In der 11. Klasse wurde er Preisträger der allrussischen Mathematik-Olympiade, bekam deshalb einen staatlich finanzierten Studienplatz an der mathematischen Fakultät einer der besten Hochschulen Moskaus. Seine Mutter Alla gegenüber „Argumente und Fakten“: „In dieser Fakultät sind bewundernswerte Leute tätig. Sie verstehen, dass es für Lonja hin und wieder schwierig ist – und sie unterstützen ihn. Unser Junge ist jetzt 20 Jahre alt, hat sich einen Bart wachsen lassen, nur, auf dem Weg ins Institut, kann er wie in Kinderjahren hüpfen, in die Hände klatschen, sich irgendetwas in den Bart brummeln.“

Sonja hat seit früher Kindheit eine ausgeprägte Weltsicht.
Mit 8 Jahren schrieb sie: „Weshalb leben die Menschen? Gott hat jedem, bevvor er ihn in die Welt sandte, gesagt: „Zieh hin, schaffe und lobe MICH durch deine Taten.“ Ich glaube, für mich sind das die Gedichte. Ich kann einfach nicht aufhören, sie zu schreiben, sonst sterbe ich vor Schmerz, platze, weil der Druck ihrer Worte den Kopf ganz ausfüllen.“
Sonjas Mutter: „Getauft ist Sonja auf den Namen Sofia. Sie ist ein religiöser Mensch, selbst wenn wir mit ihr selten in der Kirche sein können – sie kann so große Menschenansammlungen schlecht vertragen. Nur im Sommer, im Lager für Familien mit „besonderen“ Kindern im Dorf Dawydowo (Gebiet Jaroslawl) kann Sonja ganz frei die Kirche besuchen – dort ist sie unter den ihr gleichen. Daheim, in dem Städtchen bei Moskau, können Gleichaltrige mit dem Finger auf sie zeigen, lachen, Erwachsene bedauernd den Kopf schütteln …
In einer der von uns besuchten Kirchen zeigte während seiner Predigt zum Thema „Deinen Nächsten zu verurteilen ist Sünde“ auf Sonja uns sagte: „Schaut, ihr denkt, sie kann nur unartikuliert sprechen und sich merkwürdig aufführen? Nur: ihr wisst doch nicht, ob unter ihrer körperlichen Hülle nicht ein riesiger Schatz verborgen ist?“

Sie versteht ausgezeichnet, welchen Eindruck sie auf ihre Umgebung macht.

Ohnmächtig, ungeschickt,
hinter einer Wand zur Welt,
der Fluch, er heißt Autismus,
der mich gefangen hält.“


 - das schrieb sie schon mit 9 Jahren. Weshalb führt sie sich denn aber so auf? Beurteilt man ihre Gedichte und Geschichten, leidet Sonja selbst darunter: „Ich lebe gleichzeitig und ständig in mehreren realen Welten. Und die Verbindung zur gewöhnlichen Realität ist bei mir schwach entwickelt, am schwächsten auf körperlichem Niveau.“
Mit 14 Jahren hat das Mädchen ihre persönliche Definition des rätselhaften Autismus gegeben: „Das ist ein Leben im Nichts und Niemals, gleichzeitig aber im Überall und Jederzeit.“
Sie versteht, dass viele Kinder mit ähnlichen Gebrechen von ihren Eltern an staatliche Einrichtungen gegeben werden. Einige, die meinten, Sonja sei eine Art nichts verstehendes „Gemüse“, sagten ihrer Mutter sogar ganz direkt im Beisein des Mädelchens: „Weshalb gibst du sie nicht in ein Internat? Dann kannst du wenigstens frei atmen.“
Danach hat Sonja ihrer Mutti die folgenden Zeilen gewidmet:

„Was hast du schon alles an Demütigung ertragen,
die Familie stützend, wie der Riese Atlas den Himmel.“ 


Oder:

Weshalb bist manchmal so betrübt du,
schön und gedankenvoll dein Angesicht?
Einst waren Sönnchen in deinen Augen,
 so, wie du jetzt bist, warst du früher nicht.“


Hier beende ich heute. Morgen hoffe ich, auch Teil 4 dieses Briefes fertig zu bekommen. Nicht, weil Faulheit mich bremst. Sondern weil die Journalistin (die Verfasserin) und vor allem Sonja Sorgfalt verdient haben.


Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger