Ungewöhnliche Reise

Wir hatten das Ticket für den Bus in die Heimat schon gebucht. Die Suche nach dem im Fluss Verunglückten (siehe vorhergehenden Post) war noch in vollem Gange. Der Schuldirektor Nikolai und gleichzeitig  Leiter einer Gruppe des hiesigen deutsch-ukrainischen Tschernobyl-Fonds (für humanitäre Hilfe, nicht zu verwechseln mit dem Fond für die Errichtung des "Sargs" über dem Reaktor) in Belaja Zerkov hatte unter den Tauchern meinen Stiefsohn Pavel als einen sachkundigen und uneigennützigen jungen Mann kennen und schätzen gelernt. Das erfuhr ich allerdings erst während unserer Reise von ihm. 
Denn er war auch mit meiner Frau Nataliya bekannt geworden. Als sie in der Unterhaltung erwähnte, dass ich zur Kontrolle meines Herzschrittmachers nach Berlin musste, bot er uns einen Platz im Autobus an, mit welchem eine Gruppe Kinder von bei der Katastrophe von Tschernobyl geschädigten Eltern nach Deutschland fahren würde. Natascha sagte zu, denn so konnten wir auch einen Teil der Kosten sparen (Ticket zurückgeben) und mussten nicht mit dem eigenen Auto in aller Herrgottsfrühe nach Kiew fahren, um zur Abfahrt des Fernbusses vor Ort zu sein. Zwei Vorteile in einem. 
Als ich ihm vorder Fahrt vorgestellt wurde und er erfahren hatte, dass ich ein invalides linkes Knie habe, organisierte Nikolai mir einen günstigen Sitzplatz. Nach einer netten und vielstimmigen gemeinsamen Verabschiedung von den teilweise mehr als ihre Sprößlinge aufgeregten Eltern fuhren wir ab. Anschließend wurde ich mit den Begleiterinnen der Gruppe bekannt gemacht. Andererseits habe ich mich allen laut und deutlich vorgestellt. 
Die meisten der nur zeitweiligen Gruppenleiterinnen waren Frauen, welche schon länger diese Tätigkeit ausüben. Sie haben die ersten Stunden dieser für mich ungewöhnlichen Reise für die Kinder durch einfache gemeinsame Spiele und Übungen recht interessant gestaltet. 
Von Nikolai erfuhr ich, dass der genannte Fond die Verschickung von Kindern seit 1992 organisiert und seit jenem Jahr bereits rund 9600 Kinder in Soltau und Umgebung zur Erholung in deutschen Familien gebracht hat. Schon eine rechte Leistung von allen Seiten!
Er wies mich auch auf einen Jungen hin, der aus einer kinderreichen Familie kam. Beide Elternteile haben in ihre zweite Ehe sechs eigene Kinder eingebracht. Also ein Mittagstisch vorläufig immer für mehr als zehn Personen. 

Als wir nach etwa 300 km zum Frühstück anhielten, war ich trotz langjährigem Aufenthalt in der Ukraine doch etwas erstaunt. Man bat mich an eine reichgedeckte Tafel! Auf einer Art natürlichem Tisch - dem Rest eines umfangreichen Baums am Wegrand, in einer Bucht der Straße. Traditionelle ukrainische Reisverpflegung war aufgetischt - dazu für alle nicht am Steuer sitzenden zwei kräftige Schlucke von etwas Hochprozentigem. Die Damen hielten sich sehr zurück...

Der Grenzübergang nachts ging relativ rasch vonstatten. Sowohl auf ukrainischer als auch auf polnischer Seite. Es störte lediglich der schneller vor uns eingefahrene Autobus eines anderen Unternehmens. 

Von der Delegationsleitung war in Warschau aus Erfahrung eine Großtankstelle mit großer Toilette und einem sehr angenehmem Cafe ausgesucht worden, welche den Ansturm der soeben aufgewachten Kinder sowohl für Notdurft als auch zum Frühstück standhalten konnten. Was in der Nacht nicht möglich war - die Kinder nahmen nun das "Ausland" auch optisch zur Kenntnis. 

Die Informationen zum Übergang nach Deutschland ohne für sie durch Kontrollen spürbare Grenze nahmen sie schon recht gespannt auf. Ich verabschiedete mich an einem Rasthof nahe Berlin, wo Freunde mich abholten, von den quirligen, aber disziplinierten jungen Ukrainern. Wünschte gute Erholung und viele Erlebnisse.

Mit Nikolai verabredeten wir ein Treffen in seiner Heimat. Nicht ausgeschlossen, dass ich auf irgendeine Weise nützlich sein kann.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





Gewissenlos?



Der Post reicht zurück, bis zum Tag vor meinem Geburtstag, zum 20. März dieses Jahres. Pavel, mein Stiefsohn, kam wesentlich früher als gewöhnlich von der Arbeit in Kiew heim. Nach der Begrüßung sagte er: „Siegfried, leider kann ich morgen bei den Vorbereitungen zur Festtafel für die Gäste erst spät dazu kommen. Ein Freund von uns Unterwasserjägern ist von einer Pirsch bei Nacht nicht zurückgekehrt. Schon den zweiten Tag. Wir alle wollen ihn morgen verstärkt suchen. Frau und Eltern haben gedacht, dass er vielleicht bei Freunden ist. Denn er hat im Gegensatz zu mir und anderen Atemmaske und Druckluftbehälter. Deshalb haben sie uns erst heute alarmiert.“ 
Eine solche Situation erfordert natürlich den Einsatz unter besonderen Bedingungen. Natascha und ich bereiteten unsere speziellen Gerichte zu, seine bereiteten wir in gewisser Beziehung (Säubern, Zerschneiden...) auch vor. 
Er kam etwa 20 Minuten vor Eintreffen der ersten Gäste zurück. Berichtete, dass alle Suche vergeblich war. Der Koch von Beruf schaffte es jedoch unter starkem Zeitdruck, seine Köstlichkeiten zuzubereiten, bevor der letzte Gast an der Tafel saß. 
Zum bedauerlichen Ereignis gab es nur eine kurze Information. Wir alle wollten keine Spekulationen anstellen. Am Folgetag ging die Suche weiter – erfolglos. 

Gegen Mittag ließ Natascha die Mutter des Gesuchten und noch zwei Frauen sich in unser Auto setzen, fuhr mit ihnen zu einer in unserer Stadt bekannten „Hellseherin“. Die lebt in einem Dorf, etwa 120 km entfernt. Die Frauen sprachen auf der Fahrt so überzeugt von deren „Gaben“, dass Natascha davon überzeugt war. 
Die Antwort der „weisen Frau“: „Der junge Mann lebt. Er ist an Land gegangen und hält sich bei Bekannten auf, welche ihn unterstützen. Denn er will nach Westeuropa, um sich dort Arbeit und einen ordentlichen Verdienst zu suchen.“ Meine Frau teilte mir nach ihrer Rückkehr am späten Abend diese „Tatsachen“ mit. 
Weil am Vortag die Gerätetasche des Vermissten und neben ihr drei harpunierte Fische gefunden worden waren, fand ich die Antwort der „Seherin“ zweifelhaft. Er hätte sicher die Beute und seine Werkzeuge mit zu erwähnten Bekannten genommen. Warum gute Fische verkommen lassen, für die Ausrüstung notwendige und nur zu ihr passende Werkzeuge anderen überlassen? Absolut unlogisch für sehr pragmatisch denkende ukrainische Männer! 
Meine immer sehr hilfreiche Ehefrau sah das anders. Eben unlogisches Handeln sollte die Suchenden und auch die staatlichen Organe auf eine falsche Fährte locken. Neun Tage nach dem Verschwinden wurde die Suche eingestellt. Ein neuer offiziell Vermisster. 
Heute, rund einen Monat nach dem Unfall, bekam ich in Deutschland eine Kurznachricht auf mein Handy – „Vermisster ist aufgetrieben.“ 

Verdient sich die „Seherin“ auf gewissenlose Weise ihr Geld? Wollte sie mit einem Hoffnungsschimmer den Schmerz der Mutter dämpfen? Den von Frau und Tochter des Toten? Das kann ich nicht ausschließen, aber auch nicht gutheißen. 

Nachtrag: das Atemgerät des Toten hatte nach angestellten kriminaltechnischen Untersuchungen nur fünfzehn Minuten gearbeitet. Dann sei durch Herzschwäche bedingt, der Herzstillstand, der Tod eingetreten. Kein Unfall, kein Mord. Drei Flusskrebse im Netz am Gürtel lebten noch.

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger