... und geht weiter.

Mein Post „So ist Leben…“ endete ja am Sonnabend der Vorwoche. Der Sonntag begann mit einem kleinen Skandal daheim. Vor Wochen waren zum runden Geburtstag meiner Frau ihre Tochter mit Ehemann aus Bayern und Söhnchen bei uns. Nicht nur, dass fast alle Ecken und Kanten in der Wohnung abgerundet wurden, damit sich der einjährige Gehanfänger nirgends ernsthaft stieß – nein, alles etwa Greifbare war „höher gelegt“ worden. Meine Brille im Etui musste ich ständig neu finden. Weil ich sie gewisse Zeit nicht brauchte, war sie plötzlich nicht aufzufinden. Auch als die Gäste fort waren. Jedes Familienmitglied hatte die Aufgabe, mir ihr „Auftauchen“ sofort mitzuteilen. Am Sonntag, nach unserem Morgenspaziergang – Hund und ich –  kam meine erst aufgestandene Frau auf eine Idee. Öffnete einen Knickklappschrank meines PC-Tisches und fand – die Brille. Danach hörte ich einen kleinen Vortrag über Sklerose…
Etwas später war ich auf dem Basar. Bekam zu meiner Überraschung von einer unscheinbaren alten Frau Rosenkohl preiswert zu kaufen. Sorgsam geerntet, nach erstem Frost, kaum Abfall daran. Leider ist dieses extrem zuträgliche und dazu auch sehr schmackhafte Gemüse hier nur selten zu bekommen.   
Am späten Vormittag fuhr Pavel zum Reifenservice, um die Winterreifen aufziehen zu lassen. Als Belohnung kutschierte ihn Mama mit Verlobter nachmittags zu einer beliebten Stelle am Fluss Ros, wo der Unterwasserjäger einen drei Kilogramm schweren Wels, einen Karpfen mit zwei kg und zwei je eineinhalb kg schwere Zander erbeutete. Also gab es abends gefüllten Fisch – eine leckere Spezialität der hiesigen Köche. Pascha ist ja einer von ihnen. An den Folgetagen wurde gebackener Wels und Zander unter Pfirsich bzw. Ananas serviert. Heute nun haben wir die letzten Teller der am Montag aus den Köpfen und einigen Fleischteilen zubereiteten Fischsuppe zu Mittag gegessen. Etwas von den Fischen landete als Filet für Überraschungsgäste im Eisschrank. Ein erfolgreicher Wochenanfang. Grund zur Freude – genauer zur Gaumenfreude.
Vorgestern in der Morgenfrühe zogen Hund Kai und ich auf unsere drei Kilometer lange Spazierstrecke. Vor der Kreuzung der Allee stand eine sehr angenehm anzusehende junge Frau, die mit ihrem bei unserem Näherkommen sich verstärkenden Lächeln noch hübscher wurde. Weil außer uns niemand zu sehen war, entschloss ich mich. Lacht sie mich aus oder lächelt sie mich an? „Guten Morgen! Sagen sie mir bitte, weswegen sie bei unserer Annäherung lächeln?“ „Guten Morgen! Weil ich sie schon jahrelang sehe, wie sie mit Hund regelmäßig spazieren gehen. Ich bekomme gute Stimmung wenn ich sehe, wie sie sich fit halten.“ Nach Dank und Verabschiedung hatte ich Grund, meine vor Jahren getroffene Entscheidung, in der Ukraine zu bleiben, erneut als vernünftig einzuschätzen. Welche einfache, menschliche Anteilnahme!
Gestern hatte ich Grund, Altersstarrsinn und Sklerose gemeinsam zu verdammen. Seit vorigem Freitag hatte ich kein Skype mehr. Als – was sehr selten vorkommt – ich aus irgendeinem Anlass das Passwort eingeben sollte, nahm das System dieses nicht an. Weitere Versuche – unverändertes Ergebnis. Die heimische Situation verschärfte sich, weil Natascha ihren Enkel sehen wollte. Ich kann lange auf Skype verzichten – habe das ja wie viele meiner Generation Jahrzehnte lang nicht gehabt. Mein Fehler: obwohl das Programm LastPass auf meinem Laptop installiert ist, nutzte ich es nicht. Sondern hämmerte, wie gestern klar wurde, die Parole mit einem „k“ darin stattdessen mit „c“ wie Cottbus in die Tasten. Worauf Fehler angezeigt wurde.
Heute habe ich auf der Plattform gutefrage.net einem jungen Mann mit psychologischen Problemen einiges zu deren Überwindung geraten. Kam unter anderem auch auf den „europäischen Kolibri“, den Eisvogel. Wie auf Bestellung kam am Nachmittag, als ich mein Schläfchen halten wollte, ein extrem guter Naturfilm über diesen Vogel im Fernsehen.  Habe vor der Leistung der hübschen Taucher Hochachtung bekommen. Für fünf Jungvögel zu zweit am Tag etwa 70 Fischchen zu fangen – das will geleistet werden.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger

So ist Leben...



Getreu meinem Prinzip vom aktiven Leben als Grundlage für glückliches Dasein halte ich es mit Johann Wolfgang von Goethe, dessen dazu passender Rat mir erst vor kurzem auf dem Bildschirm erschien: „Willst du dich am Ganzen erquicken, so musst du das Ganze im Kleinsten erblicken.“
Bezogen auf die Erlebnisse der vergangenen Woche war das so: am Nachmittag des Donnerstags beendete ich die nicht leichte Lektüre des mir von Freund Dirk bei meinem Besuch  in Odessa geschenkten Buches „Meine letzte Stunde“ (ISBN 978-3-902404-96-1) von Andreas Salcher. Habe mich bei dem per e-mail für die Anregung bedankt. Allerdings hat mir J. W. von Goethe geholfen, wieder zu meinem Lebensrhythmus zurück zu kommen. In einer Zitatensammlung fand ich von ihm: „Die Natur: Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.“ Wie poetisch und für mich eindrucksvoll das Thema kurz und treffend durch Johann Wolfgang behandelt wurde. Mit euch allen zeitweilig im Zuschauerraum des Lebens, aber interaktiv. Einfach Klasse!
Mit dieser Anleitung zum Umgang mit dem unvermeidlich traurigen Teil unsrer Existenz war es mir etwas leichter: wir erfuhren am Abend dieses Tages, dass eine Familie unserer Freunde in den Tagen zuvor bei drei Beerdigungen war – die Mutter des Mannes, die der Ehefrau ihres gemeinsamen Sohnes und eine erst knapp über 40 Jahre alte ehemalige Nachbarin gingen aus dieser Welt. Wie schön noch zu leben!
Am Freitagmorgen beim Spaziergang mit Hund lief, unseren Rüden nicht beachtend, eine sehr junge Hündin der Rasse Goldener Retriever direkt und schnell auf mich zu. Ich streichelte sie wie üblich, als die sehr hübsche junge Herrin herankam. „Guten Morgen! Ich bin in Eile, da muss ich sie mitnehmen.“ Sagte sie und legte das Tier an die Leine. Ich meinte: „Wenn sie mich so mag, kann ich sie nicht zurückweisen.“ „Sie sind eben ein guter Mensch, das spürt der Hund.“ Sagte das und zerrte die Hündin mit sich. Wie wir in unserer Jugend sagten – ein Bienchen am frühen Morgen.
Am Sonnabend traf ich auf dem Weg zum Basar einen guten Nachbarn. Er erzählte mir die folgende Anekdote, wie Witze hier heißen.
„Ein Bäuerlein hat lange gespart, fährt in die Stadt und kauft einen sehr gut erhaltenen ausländischen Gebrauchtwagen. Fährt mit dem heim, will alle Einwohner überraschen.  Kurz vor dem Dorfeingang platzt ein Reifen. Also Wagenheber genommen und Rad demontieren. Da kommt mit Pferdewagen sein Nachbar. "Hallo Petro, was machst du da?" "Siehst du doch – demontiere ein Rad." Der Nachbar nimmt vom Fuhrwerk eine Axt, zertrümmert die Frontscheibe. "Was soll denn das??!!!" "Ich nehme mir das Radio!"

Auf dem Basar sah ich unerwartet meine Freundin-Verkäuferin Katya. Deren befähigte Tochter hat bei einem Wettbewerb einen Studienplatz in England gewonnen. Die stolze Mutti Katya hatte zuvor vorwiegend Seefisch verkauft – gefrostet, gesalzen, geräuchert und Konserven. War jedoch mit Mann zurück ins Dorf gegangen, handelt nun ab und an mit Gemüse, Früchten, Honig und Eiern aus ihrer kleinen Landwirtschaft. Nach herzlicher Begrüßung und dem Austausch von Neuigkeiten erzählte ich, der sich Witze sehr schlecht merkt, die frische Anekdote.  Sie hörte nicht auf zu lachen. Dann sagte sie: "Siegfried, hier die Fortsetzung. Unser Auto stand hier in Nähe des Basars. Diebe klauten das Radio. Boten es kurze Zeit später meinem Mann an." Wir lachten beide. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




Blind



Schon längere Zeit sehe ich beim Morgenspaziergang mit Hund einen Blinden. Er überquert mit weißem Spazierstock und Gehör recht sicher die beiden Fahrbahnen und den Mittelstreifen der Allee. Die zur Vermeidung von Zeckenbefall bei Hund Kai an Stelle der Flussaue seit diesem Frühjahr unsere Spazierstrecke ist. 
Der etwa 60-jährige Mann ist immer ordentlich gekleidet und bewegt sich äußerlich sicher. Die Allee überquert er rasch – das Gehabe vor allem jüngerer Ukrainer (hier am Übergang für Fußgänger bestimme ich, wie lange Kraftfahrer warten müssen) ist ihm fremd. 
Heute in der Frühe habe ich mir ein Herz gefasst, bin auf seine Straßenseite gewechselt, wo er auf einen Marschroutenbus wartete. Habe ihn höflich angesprochen und gefragt, seit wann er seinen Gesichtssinn verloren hat. „Seit dreißig Jahren.“ Nachdem ich ihm alles Gute gewünscht hatte, sind wir mit Hund Kai weiter auf dem Mittelstreifen spaziert – unsere täglichen drei Kilometer zu vollenden. 
Es war Zeit zum Nachdenken. Wie gut es mir, wie gut es uns allen geht, die ihre gesunden Sinne zur Verfügung haben. Recht hatte der Meister Eckhard vor rund 800 Jahren mit seinem Satz: „Willst du getröstet werden, so vergiss derer, denen es besser geht und denke immer an die, denen es schlimmer ist.“ Wie muss es gewesen sein, als es um genannten Mann herum immer grauer und dann schwärzer wurde? Wann kam die Erkenntnis, dass für ihn ärztliche Hilfe nicht mehr zu erwarten ist? Wenn ich den Blinden in den nächsten Tagen wieder sehe, werde ich ihn fragen, ob er zur Arbeit fährt – nur so ist vorerst seine für mich deutlich sichtbare Pünktlichkeit zu erklären. 
Auf dem Rückweg war Kai sehr weit vorgeeilt. Der gut erzogene Hund kann nicht gegen den Ruf der Natur an – der Duftspur läufiger Hündinnen muss er folgen. Wenn jene die Straße überquert, bricht er die Suche jedoch ab und sucht Herrchen. 
Eine ältere Frau grüßte mich und fragte, ob ich meinen Hund nicht vermisse, den sie weit weg von unserem „Treffpunkt“ gesehen habe. Ihr erklärte ich, dass Erziehung von klein auf und die Gewöhnung ans Futter zwei Bedingungen wären, welche unser Kai so fest verinnerlicht hat, dass ich mir um seine Rückkehr zu mir keine Sorgen mache. Wie auf Bestellung kam der Hund laut hechelnd aus dem Gebüsch der Allee herausgelaufen. 
Es stellte sich heraus, dass die Dame Russischlehrerin ist, genauer vor Pensionierung war. Sie fragte danach, wo ich so gut diese Sprache gelernt hätte. Trotz des Akzents wäre die Erklärung zum Verhalten unseres Hundes sachlich richtiger gewesen, als mancher hiesige Einwohner es formulieren würde. Da konnte ich einbringen, was uns der Lehrstuhlleiter Russisch an der Akademie in Moskau mit den Worten eines russischen Schriftstellers aus dem 19. Jahrhundert geraten hatte: „Man lernt die Sprache eines Landes am besten auf dem Kopfkissen seiner Mädchen.“ Sie war verdutzt – aber ich konnte hinzufügen, dass ich dank dieser Empfehlung lange Jahre mit einer Russin verheiratet war. Es war zu sehen, dass ich so meinen Ruf als ehrlicher Mann in ihren Augen wieder herstellen konnte. 
Beim Abendspaziergang traf ich Pjotr Gershan wieder – einst militärischer Chef einer größeren Bautruppe, der hier in der Stadt recht umfangreiche Bauvorhaben geleitet hat. Wir verabredeten uns auf ein ruhiges Treffen entsprechend dem Zeitplan seiner  gegenwärtigen gesellschaftlichen Tätigkeit, in welche er mich vielleicht einbeziehen will. Bin gespannt.

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





Grabsteine...



Natürlich ist es eigenartig, nach dem Post „Jubilaeum“ einen mit obiger Überschrift zu bringen. Aber das hat einen Grund. Nach dem Gespräch mit unserem Schwiegersohn, der seinen Stolz auf die so von  den Gästen geschätzte Schwiegermutter ausdrückte, gab es eines mit einem schon älteren Gast. Er hatte die Reaktion der Jubilarin auf das von mir übermittelte Kompliment beobachtet, d. h. auch sprachlich erfasst. Sie meinte, dass das alles vielleicht etwas übertrieben sei. Dem Partner seit über 20 Jahren ist jedoch nicht so leicht vorzumachen, dass ihr diese Bemerkung nicht angenehm zu Herzen gegangen ist. 
Der  Kommentar von Nikolai: „In der vergangenen Woche war ich auf dem Friedhof. Auf den meisten Grabsteinen Inschriften mit dem Inhalt wie  “Unsere liebevolle Mutter…“ oder „Unser um uns besorgter Vater…“. 
Einen dieser Väter habe ich gekannt. Ein rechter Geizhals fast ohne Freunde, weil auch noch ein Streithammel. Hinterließ ein beachtliches Vermögen. Die Erben konnten das natürlich als Sorge um sie empfinden. Nur hätten sie ihm das zu Lebzeiten nie gesagt. Weil er sie extrem kurz hielt. Mit den mit zunehmendem Alter immer zänkischeren Müttern ist das nicht anders. Auch bei ihnen wirkt der alte Spruch: von Toten Gutes oder nichts. 
Wenn man aber guten Menschen die Wertschätzung im Leben und vor Freunden ausdrückt, dann haben sie eine gewisse Befriedigung und Anreiz, so zu bleiben. Außerdem: wen interessieren überhaupt Grabsteininschriften? Da gehen ständig hunderte von uninteressierten Personen vorbei. Selten jemand dabei, den außer Geburts- und Sterbedatum die wenig fantasievollen Inschriften berühren. Weder die Besucher des Friedhofs noch die Verstorbenen haben etwas von Lobeshymnen auf einer Steinplatte oder auch auf Marmor. Aber guten Menschen im Leben Gutes tun – auch mit Worten – ist nutzbringender.“ 
Kolja ist nicht besonders redselig – seine überlegten, ruhigen Worte zur Sache sind in allen Situationen durchdacht und tiefgründig. Eine solche Beobachtung ist doch mit allen ihren Zusammenhängen recht offensichtlich. Ich beneidete ihn darum, dass mir das nicht aufgefallen und eingefallen ist.
Am Morgen des dritten Oktobers war ganz frühes Aufstehen angesagt. Die Jubilarin hatte am Vortag keinen Tropfen Alkohol getrunken. Denn sie musste ja „die Bayern“ zum Flughafen Borispol bringen. Von unterwegs meldete sie „Nebel wie Milchsuppe“. Der aber am Flughafen aufgelöst war. Nur saß der Schwiegersohn deutlich aufgeregt neben ihr. Aber gegen 12 Uhr Ortszeit bekamen wir den Anruf, dass die drei mit allen anderen Passagieren glücklich gelandet waren. 
Zum ausgedehnten Frühstück an dem Montag nach Nataschas Rückkehr wurde ich zum „Festtag der deutschen Einheit“ mit einem soliden Gläschen (50 gr) Wodka beglückwünscht. Ohne die Vereinigung währen die familiären Beziehungen nie zustande gekommen. 
Dass alle unsere auswärtigen Gäste während der zwei bzw. gar drei Tage bei befreundeten Familien untergekommen sind, war für  die bayrischen Verwandten des Schwiegersohns beinahe unfassbar. Er und Sveta hatten mit dem Söhnchen in den Tagen und Nächten ihres Besuches hier die Zweizimmerwohnung eines befreundeten Paares im Nebenhaus zu Verfügung. Das Paar war zu seiner Mutter schlafen gegangen. Unsere Kiewer Freundin hatte in unserem Wohnzimmer übernachtet – im aufklappbaren Sessel parallel zu Pavel mit Braut. 
Als das in Bayern als doch extrem unbequem und eng bezeichnet wurde, wehrte sich unsere Svetlana mit den Worten: „Vielleicht unbequem – aber im freundschaftlichen Verhältnis.“ „Das unterstreiche ich voll und ganz!“ unterstützte sie ihr Mann. Der im heimischen Dorf auch sehr gute Beziehungen zu vielen Einzelpersonen und Familien aufrecht hält – also ein Gespür für echte Freundschaft besitzt. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger