Der neunte Tag...

In meinem Post vom 09. März - "Gegenverkehr" - habe ich aus den hier folgenden begreiflichen Gründen einiges durcheinander gebracht. Meine Natascha hatte in ihrer traurigen Aufregung einiges so berichtet, wie sie es sah. Also auf dem Hintergrund ihrer Kenntnis der familiären Zusammenhänge. Mir fehlte dieses Wissen. Außerdem ist Russisch nicht meine Muttersprache. 

Wir fuhren gestern nachmittags nach Kagarlyk , um an dem Gedenken an die beiden tödlich Verunglückten Teil zu nehmen. Im Anschluss daran musste ich meine Auffassungen radikal ändern. 
Zuerst verunsicherte mich eine Tatsache auf dem Friedhof. Beide frischen Gräber waren so angelegt, dass dazwischen Platz für eine Grabstelle blieb. Wie passt das zusammen, wenn die Beiden doch ein Paar waren? Wir waren etwas später angekommen - die Gäste schon unterwegs zum Trauerhaus. Also dorthin.
Meine Natascha pfiff mich leise, aber energisch zurück, als ich die offene Hoftür hinter mir schließen wollte. Es sei unüblich, selbst ungeladenen oder unbekannten Gästen zu dieser Gedächtnisfeier so den freien Zugang zu verwehren.
 
Valentina sah, mit ihrem rechten Arm noch im Gipsverband, mitleiderregend aus. Ich begrüßte sie wie gewohnt, drückte mein Mitgefühl aus. 
Danach schockte mich ein weiterer Umstand. Die beiden in der "guten Stube" aufgestellten Bilder mit Kerzen dabei, dem üblichen Gläschen Wodka davor und der Brotscheibe darüber kannte ich. Was mich verunsicherte: der Mann war doch Jura, Walentinas Partner. Wie das? 
Meine Fragen sparte ich mir für die Heimfahrt auf. 

Das Gedenkzeremoniell begann damit, dass eine Greisin, eine offensichtlich darin geübte "Vorbeterin" vor den beiden Bildern laut ein Gebet vortrug. Alle Gäste standen während dieses Vorgangs. Bis auf zwei. Mein Nachbar und ich waren auf einem Sofa am Kopfende des mit Speisen und Getränken überladenen Tisches so eingeklemmt, dass wir bei bestem Willen nicht aufstehen konnten. 
Mir fiel auf, dass die Vorbeterin vor Ende ihres Gebets eine umfangreiche Litanei an Vornamen mit Vatersnamen dazu vortrug. Rief sie da mir unbekannte Heilige an? 

Vor Beginn des Essens kosteten nach altem Brauch alle Gäste drei Löffelspitzen vom traditionellen "kolowo" - einem süßlichen Reisgericht mit Apfelstückchen.
Während des Gedenkmahles wurden drei Mal auf die Seelenruhe der beiden Verstorbenen getrunken, darauf, dass ihnen "die Erde leicht" sein solle. Mich erfreute, dass zwei recht junge Männer und ein etwa 45 Jahre alter Herr die Wodkagläser schon vor dem Eingießen zurückgegeben hatten.
Nach dem "süßen Ende" der Gedenkfeier (Nachtisch mit Kuchen und Konfekt sowie Tee) bekamen alle Anwesenden ein Tütchen mit Keksen und allerlei Süßgkeiten. Um daheim noch bei einer Tasse Tee das Gedenkmal individuell zu beenden. 
Der gemeinsame Gedenknachmittag wurde mit einem Vaterunser beendet. Erneut schloß die Vorbeterin mit einer langen Aufzählung von Namen.

Auf der Heimreise gab es eine kurze, aber klärende Debatte. Ich erfasste, dass Juriy wirklich Walentins Lebenspartner war, Lena ihre unverheiratete Tochter. Eine 22 Jahre alte, alleinerziehende junge Mutter. 
Aus der etwas ungeordneten Erläuterung von Natascha am Unfalltag hatte ich nicht den wahren Inhalt erfasst. An diese Lektion muss ich mich erinnern, um bei meinen Erkenntnissen aus hiesigen politischen Situationen nicht persönliche Fehleinschätzungen zuzulassen.
 
Die Grabstelle, welche auf dem Friedhof frei geblieben war, ist für Walentina bestimmt. 
Die vielen Namen vor Ende des Totengebets und des Vaterunsers hatten eine nicht bekannte Begründung. Jeder der Gäste hat das mir bis dahin unbekannte Recht, dem für alle Betenden solche Namen zu nennen, um die letzten der in der jeweiligen Familie verstorbenen Personen zu ehren, für sie Fürbitte einzulegen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger  




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