Rat suchender Nachbar...

          Das Freudige am gestrigen Morgenspaziergang waren zwei Eisvögel. Den einen sah ich nur abfliegen – schön wie er auch genannt wird – „fliegender Edelstein“. Den anderen erblickte ich in einer winzigen steilen Bucht auf einer herausragenden Wurzel. Ich sah ihn von oben durch das Gezweig, etwa 2,5 m von meinen Augen bis zu ihm. Erstmals aus dieser Perspektive. Deshalb sah er unerwartet anders aus. Die Flügel blaugrau, der Rücken in einer relativ starken grünen Linie. Ich blieb, als ich ihn aufgefasst hatte, wie angewurzelt stehen. In Erwartung, dass er sich auf eine Beute stürzen würde. Aber im Wasser unter ihm schien sich nichts zu bewegen – er flog ab. 
          Auf dem Rückweg überholte uns laufend ein sehr ansehnliches junges Mädchen. Etwa 20 m danach stürzte sie unvermittelt. Wir waren rasch genug bei ihr – aber sie hatte sich angeblich nicht weh getan und lief nach Abklopfen der Sportkleidung weiter. Schadenfreude kam aber bei mir nicht auf. 

          Am Nachmittag erlebte ich etwas, das ich erst jetzt bei „auch erfreulich“ einordnen will. Auf der Mittelallee kam uns ein Mann entgegen, den ich vom Sehen kannte. Er wohnt in der Nachbarschaft – wenn man einen 9-Stöcker so bezeichnen will. Er grüßte freundlich, wenn auch schwermütig. Dann sagte er: „Ich sehe sie und ihre Frau häufig. Ich weiß auch, dass sie Deutscher und ein kluger Mensch sind. Können sie mir sagen, warum mich das Schicksal so beutelt?“ Ich fragte ihn, wie er zu dieser Einschätzung käme. „Vor 3 Jahren habe ich meinen Vater begraben, vor zwei Jahren starb meine Mutter, vergangene Woche meine liebe Frau. Warum tut mir das Schicksal das an?“ Da musste ich erst einmal Luft holen. Ich drückte ihm mein Beileid aus und sprach davon, dass ich erst vor 5 Wochen meinen jüngeren Bruder hatte mit zu Grabe tragen müssen – ich ihn also verstände.  Dann sagte ich – nicht besonders delikat, ich weiß –  dass das Leid mit der Zeit verblassen würde und er in seinem Alter noch eine Partnerin finden könne. 
          Er antwortete, dass sie 37 Jahre verheiratet waren und das sehr glücklich. Sie hätten einander das Versprechen gegeben, nach dem Hinscheiden eines von ihnen nicht wieder zu heiraten. Da fiel mir ein, ihn nach Enkeln zu fragen. Kinder sehen andere Partner gewöhnlich nicht gerne, sind deshalb zu Elternteilen gewöhnlich etwas zurückhaltend. Enkel haben andere Interessen, sind für liebevolle Großeltern viel offener. Also stellte ich meine Argumente darauf ab, dass er seinen Enkeln nötig ist – als liebevoller Opa, immer bereit, ihnen dann beiseite zu stehen, wenn die Eltern das nicht können.  Ich fand eine Menge von Gründen, die ihn darauf fixierten, eine Aufgabe zu erfüllen, die für ihn Lebensinhalt werden könnte. Nach einiger Zeit merkte ich, dass meine Argumente ihr Ziel erreichten. 
          Bevor wir uns verabschiedeten, sagte er mir: „So habe ich richtig gehandelt, dass ich sie ansprach – sie wurden mir als ein Mensch mit großer Lebenserfahrung beschrieben. Danke für ihre Unterstützung.“ 
          Das war erst nach etwas Überlegung erfreulich. 

Bleiben Sie recht gesund. 

Ihr 

Siegfried Newiger







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