Neue Erlebnisse



Es ist bei dem unangenehmen Wetter im Spätherbst oder zu Winterbeginn weniger Angenehmes oder Bemerkenswertes während des Morgenspaziergangs zu sehen. Deshalb werden hier die Post`s im Blog logischerweise seltener.
Ein Element für Zufriedenheit: die Familie hat ihre Erkältungen fast überwunden. Der seltene Husten allerdings erinnert an die unangenehmen Tage mit Fieber und verstopfter bzw. ständig tropfender Nase. Eins erfreut vor allem mich: der alte abgehärtete Vater hat weder Husten, Schnupfen noch Temperatur gehabt. Obwohl die erkältete Frau nachts ganz dicht neben ihm lag. Das seit Jahren diszipliniert geübte Rezept zur Abhärtung hat sich bei mir wieder bewährt – auch wenn den anderen die Geduld – genauer: die Disziplin – trotz positivem Beispiel nicht reicht. Um ähnlich zu leben. 

Am Donnerstagmorgen, also am 01. Dezember dieses Jahres traf ich – am Flussufer spazierend – einen älteren Herrn. Er kam aus dem Prophylaktorium, grüßte höflich und interessierte sich für unseren Kai. Anschließend erfuhr ich, dass der aus Belorussland stammende Stepan aktuell aus einem kleinen Weiler im Gebiet Lugansk kommt. Von dort ist er der Kämpfe wegen vorübergehend zu seiner Tochter nach Kiew gezogen. Sie und ihre Familie leben dort sehr beengt – geschlafen hat er deshalb in einem Kellerverschlag. Wir würden Abstellkammer dazu sagen. Bis ihn ein leichter Schlaganfall ins Krankenhaus brachte. Damit er wieder auf die Beine kommen konnte, wurde für ihn ein Aufenthalt im Prophylaktorium  Bila Tserkva gekauft.
Der Begriff Prophylaktorium stammt noch aus der Sowjetzeit. Er bezeichnet eine medizinische Einrichtung, die einem Kurheim ähnlich ist. Früher konnten Betriebe dorthin einzelne Mitarbeiter überweisen lassen, die nach des Tages Arbeit dort Essen, Trinken, medizinische Betreuung (Bäder, Massagen, andere Elemente der Rehabilitation) bekamen und auch dort schliefen. Somit prophylaktisch betreut wurden. Heute ist die frei verfügbare Dienstleistung käuflich für jedermann, der sie sich leisten kann.
Stepan ist von den medizinischen Prozeduren begeistert gewesen und mit allen anderen Bedingungen wie Unterbringung und Verpflegung sehr zufrieden. Dass er nach Ende der „guten Tage“ wieder in seine ungünstige Umgebung zurück muss, blendete er in unserem Gespräch aus. Ihn erstaunte jedoch, dass ich nicht aus dem Baltikum stamme, wie er nach meinem Akzent annahm, sondern Bundesbürger bin.
Mir fiel nach unserem freundlichen Abschied der Spruch des Meister Eckhart ein, den er vor rund 700 Jahren formulierte: „Willst du getröstet werden, so vergiss derer, denen es besser geht und denke immer an die, denen es schlimmer ist.“ Der ist für mich Grund zur Freude, dass ich außer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nie obdachlos gewesen bin. Außerdem mit meinem ganz individuellen Lebensstil doch recht lange gesund geblieben bin.  
             
Einige Tage später, schon nach relativ ergiebigem Schneefall, war ich wieder auf dem inzwischen weniger begehbaren Flussweg unterwegs. Kai wie immer etwa 30 bis 50 Meter voraus. Plötzlich stürmten von einem seitlichen Spazierweg ein sehr großer deutscher Schäferhund und die uns bekannte riesige deutsche Dogge auf ihn los. Da ich verhältnismäßig weit weg war, hatte ich keine Möglichkeiten zum Eingreifen. Aber unser alter Rüde setzte sich gegen beide jungen Hunde energisch durch. Knurrte drohend und kniff den Schäferhund sogar mit den Zähnen in die Seite. Da beide Tiere jedoch an Bewegung interessiert waren und Kai mit mehr als zwölf Hundejahren schon zu den zum Spiel nicht aufgelegten Hundegreisen gehört, zogen die beiden nicht aggressiv erzogenen Hunde weiter.

Ein weiteres Erlebnis, das mir zeigte wie gut es mir trotz geringem Bankkonto und fehlendem Ferrari doch geht, hatte ich am verflossenen Montag. In der unmittelbaren Nähe einer Parkbank hatte ein obdachloser alter Ukrainer seine Habe ausgebreitet. Er hatte sich offensichtlich im Intimbereich gewaschen, trocknete sich ab und zog „frische“ Unterwäsche an. Die Umgebung schien ihn nicht zu irritieren. Zumal in der Morgenfrühe noch relativ wenig Bürger unterwegs waren.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, die sozialen Verwerfungen in einem beliebigen Land der Welt korrigieren zu wollen. Nur ist der Abstand zu ihnen für den unvoreingenommenen
Berichterstatter wie im gegebenen Fall etwas sehr Bedrückendes. Andererseits etwas, das den oben erwähnten Spruch des Meister Eckhart erneut bei mir wirksam werden ließ…

Meine Frau hatte ein Ticket für den Zug Bila Tserkva - Lvov ergattert. Obwohl sie recht zeitig noch im November am Schalter war, konnte sie nur ein Billet für einen so genannten „Platzkartenwagen“ bekommen. Ganz anders  eingeteilt als der Westeuropäer denkt. Der Sache nach ein Liegewagen – mit drei Liegeetagen je Abschnitt quer zur Fahrtrichtung und längs der Fahrtrichtung noch zwei Liegen an der Seite. Also acht Sitzliegen je Abschnitt. Tags sind die Liegen der höheren Etagen gewöhnlich hochgeklappt – wenn deren zeitweilige Inhaber das nicht anders wünschen. Meine Gute hatte einen sehr ungünstigen Platz erwischt – zwar unten, aber eine Liegengruppe an der Toilette. Sie hatte der Fahrkartenverkäuferin zwar ihre Telefonnummer gegeben, aber keinen Anruf bekommen. Der kam am Nachmittag des Montag. Das Kind der Frau war erkrankt, sie daheim geblieben. Als sie am Montag zur Arbeit kam, wurde zufällig ein Abteilplatz in einem Waggon frei. Sie rief sofort bei uns an – meine in jedem Fall überzeugend auftretende Natascha bekam den Platz. Zwar war der Tausch nach allen Regeln zu bezahlen – aber die Frau nahm den mitgereichten Dankeschein (Bestechung im Nachhinein) nicht an. Etwas, das in der Ukraine nicht selbstverständlich ist. Zwei Ereignisse zu Freuen in einem. Das zweite nicht wegen der geringen Summe – in Euro – sondern der Haltung wegen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




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