Der neunte Tag...

In meinem Post vom 09. März - "Gegenverkehr" - habe ich aus den hier folgenden begreiflichen Gründen einiges durcheinander gebracht. Meine Natascha hatte in ihrer traurigen Aufregung einiges so berichtet, wie sie es sah. Also auf dem Hintergrund ihrer Kenntnis der familiären Zusammenhänge. Mir fehlte dieses Wissen. Außerdem ist Russisch nicht meine Muttersprache. 

Wir fuhren gestern nachmittags nach Kagarlyk , um an dem Gedenken an die beiden tödlich Verunglückten Teil zu nehmen. Im Anschluss daran musste ich meine Auffassungen radikal ändern. 
Zuerst verunsicherte mich eine Tatsache auf dem Friedhof. Beide frischen Gräber waren so angelegt, dass dazwischen Platz für eine Grabstelle blieb. Wie passt das zusammen, wenn die Beiden doch ein Paar waren? Wir waren etwas später angekommen - die Gäste schon unterwegs zum Trauerhaus. Also dorthin.
Meine Natascha pfiff mich leise, aber energisch zurück, als ich die offene Hoftür hinter mir schließen wollte. Es sei unüblich, selbst ungeladenen oder unbekannten Gästen zu dieser Gedächtnisfeier so den freien Zugang zu verwehren.
 
Valentina sah, mit ihrem rechten Arm noch im Gipsverband, mitleiderregend aus. Ich begrüßte sie wie gewohnt, drückte mein Mitgefühl aus. 
Danach schockte mich ein weiterer Umstand. Die beiden in der "guten Stube" aufgestellten Bilder mit Kerzen dabei, dem üblichen Gläschen Wodka davor und der Brotscheibe darüber kannte ich. Was mich verunsicherte: der Mann war doch Jura, Walentinas Partner. Wie das? 
Meine Fragen sparte ich mir für die Heimfahrt auf. 

Das Gedenkzeremoniell begann damit, dass eine Greisin, eine offensichtlich darin geübte "Vorbeterin" vor den beiden Bildern laut ein Gebet vortrug. Alle Gäste standen während dieses Vorgangs. Bis auf zwei. Mein Nachbar und ich waren auf einem Sofa am Kopfende des mit Speisen und Getränken überladenen Tisches so eingeklemmt, dass wir bei bestem Willen nicht aufstehen konnten. 
Mir fiel auf, dass die Vorbeterin vor Ende ihres Gebets eine umfangreiche Litanei an Vornamen mit Vatersnamen dazu vortrug. Rief sie da mir unbekannte Heilige an? 

Vor Beginn des Essens kosteten nach altem Brauch alle Gäste drei Löffelspitzen vom traditionellen "kolowo" - einem süßlichen Reisgericht mit Apfelstückchen.
Während des Gedenkmahles wurden drei Mal auf die Seelenruhe der beiden Verstorbenen getrunken, darauf, dass ihnen "die Erde leicht" sein solle. Mich erfreute, dass zwei recht junge Männer und ein etwa 45 Jahre alter Herr die Wodkagläser schon vor dem Eingießen zurückgegeben hatten.
Nach dem "süßen Ende" der Gedenkfeier (Nachtisch mit Kuchen und Konfekt sowie Tee) bekamen alle Anwesenden ein Tütchen mit Keksen und allerlei Süßgkeiten. Um daheim noch bei einer Tasse Tee das Gedenkmal individuell zu beenden. 
Der gemeinsame Gedenknachmittag wurde mit einem Vaterunser beendet. Erneut schloß die Vorbeterin mit einer langen Aufzählung von Namen.

Auf der Heimreise gab es eine kurze, aber klärende Debatte. Ich erfasste, dass Juriy wirklich Walentins Lebenspartner war, Lena ihre unverheiratete Tochter. Eine 22 Jahre alte, alleinerziehende junge Mutter. 
Aus der etwas ungeordneten Erläuterung von Natascha am Unfalltag hatte ich nicht den wahren Inhalt erfasst. An diese Lektion muss ich mich erinnern, um bei meinen Erkenntnissen aus hiesigen politischen Situationen nicht persönliche Fehleinschätzungen zuzulassen.
 
Die Grabstelle, welche auf dem Friedhof frei geblieben war, ist für Walentina bestimmt. 
Die vielen Namen vor Ende des Totengebets und des Vaterunsers hatten eine nicht bekannte Begründung. Jeder der Gäste hat das mir bis dahin unbekannte Recht, dem für alle Betenden solche Namen zu nennen, um die letzten der in der jeweiligen Familie verstorbenen Personen zu ehren, für sie Fürbitte einzulegen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger  




Wer liebt...

Der heutige Morgen begann damit, dass bei Lufttemperatur von um null Grad Celsius der Spaziergang mit Hund in Richtung Basar ging. Nicht, weil ich Blumen aus der Zuchtbox für meine Natascha kaufen wollte, sondern weil die Wegstrecke besser gestreut ist. 
Das ist in meinem Alter wichtig. Als wir bei den "wilden Händlern" mit ihren improvisierten Ständen aus Obst- und Gemüsekästen ankamen, sah ich bei einer bejahrten Frau kleine Sträuße von Schneeglöckchen. 
Meine Natascha liebt Feldblumen mit ihrem zarten Duft mehr als geruchslose rote Rosen aus einer holländischen Zuchtanlage. Also fragte ich nach dem Preis für ein Sträußchen. Als erster Käufer bekam ich für den so genannten "potschin" (Geschäftsbeginn) 30 % Rabatt - also lediglich 7 Hrywna oder 28 €-Cent für den bescheidenen Strauß - wenn auch mit einem farbigen Bändchen zusammengefasst. 
Weil ich nur zwei Hrywna und einige Münzen in der Jackentasche hatte, leistete ich eine Anzahlung. Nach dem Spaziergang mit Kai würde ich den Strauß holen. 
Als wir bei unserer Freundin Olga am Kiosk vorbeikamen, ließ ich mir von ihr 5 Hrywna borgen, um nicht erst heimzugehen und danach die Blümchen zu holen. Ganz nebenbei erzählte ich von den Schneeglöckchen. Sie bat mich, ihr auch ein Sträußchen mitzubringen und reichte das nötige Geld heraus. Die ältere Frau war sehr erfreut, als ich noch mehr abnahm.

Für meinen "Botendienst" wurde ich mit einem Praline von Olga belohnt. Daheim bekam ich für meine kleine Aufmerksamkeit von Natascha drei Küßchen. Der Valentins- Tag hat so Stimmung am frühen Morgen gebracht. Den Umsatz für die Verkäuferin, die Botentätigkeit für Olga - und die Aufmerksamkeit für meine Natascha. Besser geht es fast nicht.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




 

Gegenverkehr...


Als ich gestern den Post "Märchenhaft..." beendet hatte, rief über Handy jemand plötzlich meine Natascha an. Aus ihrer zunehmend intensiveren, emotional negativ eingefärbten Unterhaltung auf Ukrainisch konnte ich entnehmen, dass im Kreis unserer Bekannten ein Unglück passiert sein musste. 

Als sie mit Tränen in den Augen in die Küche kam, sah ich sie deshalb nur fragend an. "Walentina aus Kagarlyk!" sagte sie schluchzend. 
Es dauerte eine Weile, bis wir die ganze Tragweite des katastrophischen Geschehens erfasst hatten. Walentina, eine bis dahin zutiefst lebensfrohe Frau, liegt im Krankenhaus. Der Partner ihrer Tochter, welcher das Auto gelenkt hatte und seine junge Frau neben ihm sind tödlich verunglückt, die Oma mit dem zweijährigen Enkeltöchterchen in kritischem Zustand. Das Ausscheren in den Gegenverkehr endete mit einem Frontalzusammenstoß. Der Überlandfrachter war stabiler.

Walja hat einen Sohn mit sieben Monaten verloren, einen anderen mit 17 Jahren und zwei Ehemänner nacheinander als Opfer von Verkehrsunfällen begraben lassen müssen. Die unerklärliche Häufung dieser Ereignisse in einer Familie ist beängstigend. 

Was macht dieses Ereignis für mich bemerkenswerter als andere? Die Welle der Hilfsbereitschaft - ich nenne sie für mich "das psychologisch noch warme Klima" in diesem osteuropäischen Land Ukraine. Alle Studienkollegen, welche Natascha anrief und informierte, fragte sofort danach, an wen sie Spendengeld für die arme Frau überweisen könnten. Eine ehemalige Studienkameradin aus der Fachschule für Bautechniker, die relativ nahe wohnt, ist heute in der Frühe die rund 25 km gefahren, um Walentina nahe zu sein. Sie kümmerte sich auch schon um die Formalitäten der heutigen Beerdigung. 

Natascha wird in einigen Minuten mit unserem Auto nach Kagarlyk fahren. Sie hat den Auftrag, ein Brautkleid zu kaufen und mitzubringen. Hier ist es unter anderem üblich, dass eine junge Frau, die nur in Lebenspartnerschaft lebte, in einem Hochzeitskleid beerdigt wird. Eine tote Braut im offenen Sarg... Für uns Mitteleuropäer doch ein etwas ungewohnter  Brauch.

Meine Gute habe ich mit dem Wunsch verabschiedet, sie möge besonders vorsichtig fahren. Denn wir beide haben vor, noch einige gemeinsame Jährchen zu durchleben. Mit frohen und traurigen Stunden wie heute. 

 Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 





Märchenhaft...

Am Morgen des vergangenen Donnerstag war es ganz gegen die Winterszeit in der Frühe vor dem Fenster schon recht hell. Gegen sechs Uhr morgens. 
Als ich aus dem Fenster schaute, war die Landschaft schneeweiß. Es hatte bei Windstille in der Nacht geschneit. Weil etwa nur um den Gefrierpunkt kalt und empfindbar feucht in der Luft, hatten sich auf allen Ästen der meisten Bäume hohe Schneelasten angehäuft. 

Als wir mit dem Hund ins Freie kamen, lagen etwa 12 bis 15 cm Neuschnee auf den Fußwegen. Die Autos waren kaum zu hören, weil der Schnee deutlich dämpfte - vor allem aber auch, weil an dem Tag wesentlich weniger PKW als sonst unterwegs waren. Das Laufen war noch angenehm griffig. Die Schuljugend würde erst später mit Jubel die danach für uns Greise viel zu glatten Gehwege "beschlittern". 

Ein großer Walnussbaum hatte die weiche Schneelast in seiner Krone nicht ausgehalten, war knapp über dem Boden abgebrochen und hatte den Gehsteig gesperrt.  
Auf der Allee saßen die großen Scharen Saatkrähen in den Baumkronen. Mit den Schneeklumpen, welche ihre Bewegungen ablösten, kleckerte ziemlich regelmäßig ihr gelber Kot auf die Spaziergänger. 
Der natürliche Baumbelag in den Kronen aller Bäume verwandelte an diesem Morgen die Allee in eine märchenhaft bizarre, weiß gepuderte Spazierstraße. Ein Anblick für Fotoliebhaber, der sicher nicht so rasch wiederkommt. Jedenfalls erstmalig in diesem Jahr.

An solchen Tagen kann ich alle jene nicht recht verstehen, welche sich vor dem Winter mit seiner weißen Pracht und auch dem Matschwetter in Gegenden retten, wo sie ewig die gleichen Bedingungen vorfinden. Aber das ist wohl Geschmackssache.

Am Freitag hatte sich der Schneeboden auf den Gehsteigen schon verfestigt, war glatter geworden. Allerding auch unebener, eine Herausforderung für uns Ältere. Weil die Luft nicht wesentlich kälter wurde, dazu der Wind auffrischte, war die unberührte weiße Pracht des Donnerstags schon am Sonnabend wieder der üblichen kahlen Schwärze der Äste gewichen.

Am heutigenMorgen wieder einmal eine Begegnung mit dem Liebhaber von Spruchweisheiten. Ich konnte ihn mit der folgenden Sentenz von Dante Aliegheri nachdenklich machen: "Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder."

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr 

Siegfried Newiger 





Konzert in Odessa



Es ist immer wieder interessant für mich, neue kulturelle Ereignisse zu erleben an bisher unbekannten Stätten. Meine Freunde in Odessa schlugen mir vor, gemeinsam ein Konzert des Nationalen Philharmonischen Orchesters Odessa zu besuchen. 
Dieses Orchester bekam seine Graduierung „Nationales“ in der Ukraine dank zielstrebiger Entwicklung unter der künstlerischen Leitung seines Chefdirigenten Hobart Earle, eines in Venezuela geborenen Amerikaners. Er kam vor über 20 Jahren nach Odessa und hat seither das Orchester in die internationale Spitzenklasse gebracht. 
Als Violinen-Solist war der gebürtige Ukrainer Andrej Below angekündigt, der gegenwärtig in Hannover lebt. Unsere Freundin sagte mir, dass er auf einer von der „Deutsche Stiftung Musikleben“ an ihn übergebene Guarneri-Violine spielen würde. 

Sehr erwartungsvoll fuhren wir in die „Philarmonie“, welche äußerlich als solche nicht unbedingt zu erkennen ist. Sie wurde aus der einstigen Odessaer Börse durch bautechnische Umgestaltung des Börsensaales in einen mit besserer Akustik zum Konzertsaal geschaffen. Die riesigen Fenster waren innen mit lichtdurchlässiger Plastikfolie abgedeckt, weil offensichtlich Beheizungsprobleme in der Winterszeit das erfordern. Dazu kommt, dass ich die Höhe des Saales für ganz außergewöhnlich fand. Die Stühle relativ hart, auf der linken Seite des Saales jene mit ungeraden Nummern, rechts die mit geraden. Eigenartig, weil noch nie erlebt. 
Die Bemerkung der Platzanweiserin: „Kommen sie ruhig näher, schämen sie sich nicht.“ fand ich etwas merkwürdig. Bis mir einfiel, dass ich sie auch mit „Genieren sie sich nicht.“ hätte übersetzen dürfen. 
Im Programm gab es drei Werke deutscher Komponisten – Franz Schubert, Robert Schumann und Ludwig van Beethoven. Alle etwa stilistisch nicht weit voneinander entfernt. Für mich folglich leichter aufzunehmen. Keine Stimmungsbrüche wie zwischen Mozart und Schönberg vielleicht. 
Während der „Ouvertüre zur Zauberharfe“ von Schubert störte mich optisch eine Kleinigkeit. In der Gruppe der ersten Geigen saß eine kleine schlanke Frau, deren Bluse am unteren Rand relativ breit mit Pailletten besetzt war. Bei allen ihren intensiveren Bewegungen spiegelten die mir das Scheinwerferlicht in die Augen. So, wie wir in der Jugend Mädchen mit Spiegeln ärgerten…
Schumanns „Konzert für Violine und Orchester“ war ein Erlebnis besonderer Art – was Orchester im Zusammenspiel mit dem Solisten anbetrifft. Das sachkundige Publikum erreichte mit seinem nicht enden wollenden Beifall eine Zugabe. 
Im Solo „Largo“ von Bach habe ich dreierlei erfasst. Als erstes die virtuose Beherrschung des Instruments durch den Meistergeiger. Damit verbunden erlebte ich den nicht wiederzugebenden Klang der Guarneri – vor allem in den vollen tieferen Tönen. Und schließlich sah ich die für mich interessanten Reaktionen der Orchestermitglieder. Die von der musikalischen Verzückung vieler Damen bis zur sehr deutlich zu bemerkenden fachlichen inneren Einschätzung des Solisten durch einige männliche Musikanten reichte. 

Als paradox empfand ich, als nach dem Konzert ein junges Mädchen seine Kopfhörer aus den Ohren nahm. Aber vielleicht hatte es eine ältere Person begleitet, sich selbst aber lieber Musik des 21. Jahrhunderts angehört, weil ihm die "altmodische" (damals moderne) des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht zusagte. 

Wir müssen auch damit leben. 

Oder war das eventuell das Hörgerät für eine Schwerhörige?

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger 





Erneut Odessa...

Es war eine sehr kurzfristige Entscheidung. Wegen privater Angelegenheiten erneut unsere Freunde in Odessa zu besuchen. Per Überlandbus in sechs Stunden zu erreichen. Der mit 15 Minuten Verspätung in Belaja Zerkow ankommende Bus konnte diese Zeitdifferenz bis zur Ankunft mühelos beibehalten.

Ein junger Mann in Uniform, deutlich erkennbar als von der "Ostfront" kommend, wurde nach Abfahrt von unserer ersten Raststelle mit 10 Minuten Pause sichtlich unruhig. Dann entnahm er seinem Rucksack ein Tablet, schaltete das auf "Navigation" und bekam unsere Bewegung auf der Trasse angezeigt. Nach geschätzt etwa 20 Minuten klappte er es zusammen, schob es in den Rucksack, schnallte jenen auf den Rücken. Danach holte er aus der Gepäckablage einen Strauß Rosen. Wenige Augenblicke später bremste der Busfahrer. Im Nieselregen stand ein junges Mädchen an einer Bushaltestelle, welches den jungen Mann nach dem Aussteigen liebevoll umarmte. Beide standen in dieser Haltung noch lange, nachdem der Bus wieder angefahren war. Schön für beide...

Bei Annäherung an Odessa wurde die Schneedecke auf den Feldern immer gleichmäßig geschlossener. Als wir in die Stadt einfuhren, waren die Spuren der vor einiger Zeit aufgetretenen extremen Verwehungen noch deutlicher zu sehen. An den Straßenrändern Schneehaufen von bis zu eineinhalb Metern Höhe, in ihrer Nähe nicht selten riesige Pfützen. Dirk, der mich mit Tanya getroffen hatte, scherzte in der Nähe des von ihnen mit bewohnten Hauses: "Hier sehen sie die Odessaer Seenplatte." 

Im Zusammenhang mit dem jungen ukrainischen Militär und dem gestrigen Datum erinnerte ich mich: an diesem Tag habe ich vor genau 70 Jahren meinen Vater, er damals Ausbildungsoffizier bei der deutschen Wehrmacht, ein letztes Mal gesehen. Am nächsten Tag vor eben dieser Zeit begann am 20. Januar 1945 unser aller Flucht aus dem damaligen Warthegau "heim ins Reich". Mein jüngster Bruder war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Hoch auf einem Leiterwagen, bei minus 20 Grad Celsius. Wir hatten Glück, kamen mit Hilfe eines Bekannten nach einiger Zeit auf der Ladefläche eines mit Plane geschützten LKW an allem Leid vorbei in die Nähe von Berlin. Die Flüchtlinge aus dem Donbass sind mir deshalb psychologisch nahe.

Gestern war in der Ukraine für alle orthodoxen Christen das, was die Christen in Westeuropa als Epiphaniastag feiern: die Erinnerung an die Taufe des Jesuskindes. Also gehen viele Leute "Eisbaden", werden anschließend von einem Priester gesegnet. Unsere Freunde fuhren mit mir in die Nähe eines in Odessa bekannten Männerklosters, wohin wir dann über schneematschige Straßen und durch Pfützen gingen, um "geweihtes Wasser" zu holen. Vier Sechs-Liter-Flaschen voll - gleich mit für unabkömmliche Verwandte. Angeblich heilkräftig. Für mich in der Art von Placebo verständlich. Auch sehr wohlschmeckend, wie mir ein großes Glas voll zur Probe bewies. 

Interessant war im Kloster die "neue Kirche" - ein ästetisch gut gelungener Kultbau, der innen bei mir keine düstere Bedrückung hervorrief wie die "alte Kirche", sondern mit ins Helle aufstrebenden Linien eher geeignet scheint, die christliche Auferstehungsidee zu verkörpern. Ich bedankte mich bei Tanya, dass sie mich dazu angeregt hatte, in dieser Kirche einige Minuten zu verweilen. Weil auch so seltene Baukunst-Erlebnisse das Leben bereichern.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





Reicher Abend...

Am Abend des 6. Januar wird in der Ukraine jährlich wegen der Unterschiede zwischen den gregorianischen und julianischen Kalendern für die aktuelle Zeitrechnung der westeuropäischen und orthodoxen Kirchen der Heilige Abend hier als "Reicher Abend" gefeiert. 
Er ist sachlich das "Fastenbrechen" nach dem so genannten "schwachen Fasten", welches an diesem Januar-Abend symbolisch nach Aufgang des ersten Sterns vollzogen wird. Das dazu gehörige Abendessen beginnt mit dem so genannten "kutja" - einer Speise aus Mohn, gehackten Walnüssen, Rosinen, gekochtem Buchweizen oder Weizen und einer "uzwar" genannten Flüssigkeit. Das ist ein leicht gesüßter Sud aus Wasser und Trockenfrüchten aller Art. Außerdem kommen dazu weitere elf Fastenspeisen.

In der wesentlich traditionsbewussteren Westukraine gehört neben dem Gebet vor dem gemeinsamen Essen (nicht selten in Volkstracht) dazu, dass der Esslöffel bis zum Abschluss in einem Teller oder Gefäß abgelegt wird, nie auf dem Tisch. Auch hat während der gemeinsamen Veranstaltung niemand das Recht, das Haus zu verlassen. Zum Abend gehört dort auch der gemeinsame Gesang von Liedern aus dem religiösen oder folkloristischen Bereich. 
Nach dem 22. Januar beginnt für aller orthodoxen Gläubigen das so genannte "strenge Fasten", das zeitlich bis zu den Osterfeiertagen dauert. 

Wir waren am 8. Januar bei etwas lockerer mit der Kirche verbundenen Bekannten ins Dorf zum "Reichen Abend" eingeladen. Aus den üblichen zwölf Fastenspeisen wurden uns nur vier vorgesetzt, dazu kamen jedoch sehr weltliche Gerichte und guter Wodka. 
Allerdings wurde ich dennoch überrascht. Denn plötzlich waren Kinderstimmen zu hören. Die Kleinen kamen sehr höflich als "kolodjaschniki" ins Haus - eine Art "Zauberer". Als sie nach ihren Bitt- und Wünscheversen zu singen begannen, war ich erstaunt. Es erklang das weltweit bekannteste Weihnachtslied "Stille Nacht, heilige Nacht" auf Ukrainisch. Das rührte an - weil nicht bestellt, weit entfernt von der in Deutschland üblichen Vermarktung auf den dort so kommerziell ausgerichteten Weihnachtsmärkten.

Am Folgeabend traf uns ein mittelschwer alkoholisierter älterer Mann. Er wollte von mir als Deutschem nach Glückwunsch zum Heiligen Abend wissen, ob Köln eine schöne Stadt sei. Seine dort seit langem lebende Schwester behaupte das. Ich habe nach meinen Eindrücken positiv geantwortet. 
Dann rief er ganz plötzlich: "Aber so etwas ist in Deutschland unmöglich!" Diesen Satz wiederholte er stereotyp, ohne mir auf meine sachbezogene Frage zu antworten. 
Weil er immer lauter wurde, dazu beängstigend mit den Armen umherfuchtelte, erschien das für Hund Kai als Bedrohung. Er warf sich laut bellend auf den fast in seiner Reichweite befindlichen "Angreifer". Der erschrak, ich musste ihn beruhigen und gleichzeitig den Beschützer Hund loben. Wir trennten uns - er sehr laut vor sich hin brabbelnd. Unaufgefordert hat unser gutmütiger Spaniel gezeigt, dass er seine Meinung zu bedrohlichen Situationen hat.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 





Neues Jahr

Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner hat zu diesem Anlass sehr treffend formuliert: "Wird`s besser? Wird`s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich." 
Wer in dem vergangenen Jahr aus Altersgründen friedlich von uns ging, schwerer Krankheit erlag, beim Unfall um Leben oder Gesundheit kam, in Kampfgebieten getötet oder verstümmelt wurde, hat diese knappe Wahrheit leider am eigenen Leibe erfahren müssen. Über uns, die  am Leben und gesund Gebliebenen kam gleichzeitig das mit oben Gesagtem auch verbundene seelische Leid. 

Lassen wir uns deshalb in 2015 eins zu Eigen machen, wenn wir es bisher noch nicht verinnerlichen konnten - die Lebens-Auffassung des bekannten Urwaldarztes Albert Schweitzer: "Optimistisch ist diejenige Weltanschauung, welche das Sein höher als das Nichts stellt und so die Welt und das Leben als etwas an sich Wertvolles bejaht."
Denn dann haben wir jene Grundstimmung, die uns trotz aller als der Gegenpol zum Angenehmen existierenden Widrigkeiten auch über schwere Stunden hinweghilft. Wie vom französischen Dramatiker Jean Anouihl ausgedrückt: "Die wahren Lebenskünstler sind schon glücklich, wenn sie nicht unglücklich sind."

Vor kurzem erst las ich einen Artikel im russischen Teil des Internets. Auf Deutsch: "Lachen sie ihre Krankheit aus." In ihm wurde aus Forschungsberichten zitiert, dass Personen mit positiver Lebenseinstellung nachweislich subjektiv besser mit ihrem Schicksal zurecht kommen und bei auftretenden Krankheiten rascher als andere gesunden. Weil ihre Immunität deutlich ausgeprägter ist. Diese Erfahrung habe ich ebenfalls sehr überzeugend gemacht - vor und nach elf überstandenen chirurgischen Operationen.

Das über Jahrzehnte Erlebte veranlasst mich, hier erneut jemanden zu zitieren. Aus Indien kommt die folgende Weisheit: "Unsere Freude beginnt, wo wir jemand anderes zum Lächeln bringen." Also ist es sinnvoll, Veranstaltungen im Fernsehen anzusehen oder zu besuchen, die uns gute Laune bringen. Denn wir können mit eigener guter Laune anderen und uns selbst Gutes tun. Beste Laune, Humor als kostenlose Medizin an Ihre Mitmenschen verteilen. So, wie es sehr eigenwillig schon vor fast 400 Jahren der "englische Hippokrates" Thomas Sydenham feststellte: "Die Ankunft eines guten Clowns ist für eine Stadt heilsamer, als die Ankunft von 30 mit Medikamenten beladenen Eseln." 
Wir sollten keineswegs zu den Narren werden, welche den Königen bessere Stimmung bescherten. Sondern nur ein wenig Freude in unsere Umgebung ausstrahlen. 

Wie es mir am Sylvestertag gelang. Das Erlebnis: auf unserem Heimweg kamen mir vier junge Frauen entgegen, die lebhaft miteinander redeten und lachten. Sie verfolgte ein herrenloser schwarzer Hund, dürr, aber etwa so hoch wie ein deutscher Schäferhund. Als sie auf meiner Höhe waren, sah ich, was das Tier so an sie fesselte. Aus einer Handtasche ragte etwa 15 bis 20 cm eines Baguettes heraus, das der hungrige Bello schon im Vorgenuss intensiv beleckte. Gänzlich unbemerkt von den mit sich beschäftigten Damen. Als ich die vier lächelnd auf die Situation hinwies, gab es lautes Gekreische. Der Hund wurde verjagt. Danach, bei meinem Besuch auf dem Basar, erzählte ich die Kleinigkeit zwei Bekannten, die darüber herzlich lachten. So brachte ich nur ein wenig bessere Stimmung in meine Umgebung durch Aufmerksamkeit auf bemerkenswerte Vorgänge und auch gegenüber anderen, vom Alltag gestressten Menschen. 

Die chinesische Weisheit  kann sich so erfüllen: "Als du auf die Welt kamst, hast Du geweint, und um Dich herum freuten sich alle. Lebe so, dass, wenn Du die Welt verlässt, alle weinen und Du allein lächelst."

Bleiben Sie recht froh und gesund im Neuen Jahr!

Ihr

Siegfried Newiger 





Erlebnisse haben...

Im vorherigen Post ging es um die Ereignisse vor und während meiner ungeplanten Berlinreise. Unterwegs hatte ich ja ausgiebig Zeit, über einige Voraussetzungen der persönlichen Zufriedenheit nachzudenken. Zum Abschluss dieser Überlegungen kam ich jedoch erst auf dem Rückflug. Die ganze Reise war von dem Unternehmen bezahlt, welches mich kurzfristig für einen sehr persönlichen, sicheren und auch vertraulichen Kurierdienst angeheuert hatte. Wenn in meinem Alter - geboren 1937 - jemand mich für eine solche Aufgabe anwirbt, ist das doch ein Vertrauensbeweis. Also von Beginn als positives Zeichen zu bewerten. Ein erster Baustein für Zufriedenheit. 

In Berlin übergab ich die Unterlagen an meinen Auftraggeber und wurde 15 Minuten später von meinen Freunden am Busbahnhof empfangen - um 06:15 Uhr Ortszeit. Ein weiterer kleiner Baustein wie oben. Das so zu empfinden muss man sich selbst angewöhnen, um die wahrlich nicht seltenen unangenehmen Ereignisse des täglichen Lebens viel besser zu verkraften.
Am selbigen Tag konnte ich ohne Stress für April 2015 einen besonders günstigen Termin beim medizinischen Spezialisten (Orthopäden) vereinbaren, erhielt danach an anderem Ort eine Information, welche eine längere Fahrt per Nahverkehr durch Berlin unnötig machte. Die nächste Auskunft befreite mich von der Notwendigkeit, selbst in einer Angelegenheit beim Dienstleister vorbeizukommen. Dagegen war die sehr unangenehmen Gesellschaft eines Behinderten im Bus leicht zu vergessen, der sich ganz unüblich extrem laut und dazu in sehr unangenehmer Weise gegenüber der Allgemeinheit äußerte. 
Am Folgetag auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz am frühen Abend. Auf der Rolltreppe kommen zwei ansehnliche junge Frauen heraufgetragen, eine mit einer kleinen Sektflasche in einer Hand. Beide nett "angeschäkert", bieten mir, der das Bild lächelnd beobachtet, einen Schluck daraus an. Meine Antwort: "Mädelchen, eure Omas sind meine Altersklasse!" wird ebenfalls lächelnd akzeptiert. Als sie an der Friedrichstraße aussteigen, rufen sie mir "Frohe Weihnachten!" zu und senden Kußhändchen. 
Im Bus bittet mich später eine Frau reiferen Alters, ihr den Sitz neben mir frei zu machen, wo meine Aktentasche ruht. Sie erzählt mir ungefragt, dass sie Rheinländerin sei, seit mehr als 20 Jahren in Berlin heimisch. So wäre sie von der zeitweiligen Hauptstadt Bonn in die alte Hauptstadt gekommen. Ich fragte sie, ob sie denn etwas von einer der ältesten Hauptstädte Deutschlands wisse - dem sorbischen Bautzen. Es war ihr neu, dass diese Stadt schon im Jahre 1213 Stadtrechte bekam. Berlin erst einige Jahrzehnte später. Ich schockte sie auch noch mit meiner entfernten Abstammung von den Kaschuben. Das ist eine  westslawische Völkerschaft in Polen. Ähnlich wie die Sorben in Deutschland mit einigen kulturellen und sprachlichen Eigenheiten. Die Genannten waren ihr gänzlich unbekannt. Allerdings nahm sie alles leicht, eben mit rheinischem Humor. Auch meine Abschlussbemerkung, dass ich schon fast 20 Jahre in der Ukraine lebe.

Dorthin zurück ging es zwei Tage später. Flug von Tegel über Wien. Zwar gibt es am Wiener Flughafen auch Transit-Bereiche - aber der Flug nach Kiew war nur durch den Ausgang zu erreichen mit erneutem Einmarsch in die Kontrollzone. Dort wurde mir - ganz anders als in Berlin (Normung wo?) das Ausziehen meiner Schuhe angewiesen und mir (in hygienischen Plasthandschuhen) eine Fußmassage verabreicht, wie sie z. B. in Moskau nicht üblich ist. Wieder etwas zum Lächeln. 

Wirklich daheim war ich wieder am anderen Morgen, als mir ein Bekannter begegnete. "Guten Morgen, Väterchen, was für eine Weisheit kannst du mir heute empfehlen?" Ich darauf: "Der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel schrieb: Jeder denkt von sich das Allerbeste, will aber unbedingt wissen, was sein Nachbar über ihn denkt." Er verabschiedete sich mit Dank.

Von Ihnen hätte ich in diesem Sinne gern Kommentare. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





Vor dem IV. Advent...

Am Montag nach dem III. Advent ging ich in der Frühe schon heim mit dem Hund, als uns ein junges Mädchen entgegen kam. Geschätzt etwa 12 bis 16 Jahre. Nicht besonders groß, zwischen zierlich und fraulich von der Figur. Aber beschwingten, auch eleganten Schritts und mit einen beseelten Lächeln, glänzenden Augen. Es war zu sehen, dass es einen "Guten Morgen!" hatte, wodurch auch immer veranlasst - denn so sehen Schülerinnen gewöhnlich auf dem täglichen Schulweg nicht aus. 

Dann ging ich zur gewohnten Morgenvisite am Kiosk von Olga vorbei, die mich mit den Worten begrüßte: "Wie können sie sich nur in meinen Traum drängen?" Ich hatte am Vorabend der ausgebildeten Tierärztin meine Sorge um unseren zunehmend häufiger ohne erkennbaren Anlass winselnden Hund geschildert. Das musste sie beeindruckt haben. Ich hätte als Baby mit meinem schönsten Lächeln auf ihren Armen gelegen. Die Frage, ob sie mich auch gestillt hätte, beantwortete sie schlagfertig mit "Ist das nicht zuviel Wunschdenken?". Wir trennten uns lachend. 

Am Abend rief recht spät der Unternehmer aus Deutschland an, für welchen ich bei Erfordernis in der Ukraine oder in Russland als Dolmetscher tätig werde. Ob ich gesund und frei sei. Das erste bejahte ich. Zum zweiten formulierte ich, noch immer mit der ihm bekannten Frau verheiratet zu sein. Ob ich denn Urlaub bekäme? Von Geschäftspartnern im zur Zeit umkämpften Lugansk würden wichtige Papiere benötigt, welche beide Seiten der Post nicht anvertrauen wollten. Ob ich als Privatkurier mit den genannten Dokumenten rasch nach Berlin kommen könne. 
Die Unterlagen übergab man mir am Dienstag in Kiew. Weil kein Flugticket mehr zu bekommen war, setzte ich mich am Mittwochmorgen in einen Überlandbus und fuhr in jenem fast volle 24 Stunden nach Berlin. 

In besagten Bus stieg unterwegs eine sehr übergewichtige  Ukrainerin zu. Sie kontrollierte als erstes ihren Sitz am Gang, zog ihn seitlich heraus, kippte ihn in Schlaflage. Er kam danach durch sie getastet auch wieder in Ausgangsstellung zurück. Als sie alles nach dem Setzen erneut probierte, funktionierte die Rückkehr nicht. Sie protestierte lauthals gegen das defekte Sitzmöbel. Ich machte sie, schräg hinter ihr sitzend darauf aufmerksam, dass ihre Rundungen der Technik hinderlich seien. Nach einem bösen Blick an mich rutschte sie vor - der Sessel kam wie gewünscht hinterher. Die extrem selbstbewusste Dame hat uns allen um sie herum noch mit anderen Gags "Freude" gemacht. 
Bedauerlich, wie andere Personen mit ihrer eigenen auch die Stimmung ihrer Umwelt regelrecht vermiesen können. Leider ist solche Umweltverschmutzung nur durch Missachtung strafbar...

In meinem Alter noch Vertrauen zu genießen und somit gebraucht zu werden ist eine der großen Freuden, welche das Leben noch lebenswerter machen. Sie wird auch durch das Geschilderte nicht nachhaltig getrübt.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




 

Neue Eindrücke...

Vorgestern Abend waren Frau und Stiefsohn von längerem Ausflug per Auto zurückgekommen. Sie hatten auf dem Rückweg Freunde im "Ort mit städtischem Äußeren" besucht. Das würde ich ins Deutsche mit "kleinstädtische Siedlung" übersetzen. Dort waren sie mit ukrainischer Gastfreundschaft nicht nur bewirtet, sondern auch beschenkt worden. Kartoffeln, Möhren, Rote Beete, Weißkohl und jede Menge Eingewecktes nach Hausmacherart. Darunter auch eingefrorenen jungen Mais. Als sie den daheim auftauten, fielen einige Körner zu Boden. Hund Kai verputzte sie im Handumdrehen. Das war Grund, ihm eine kleine Schüssel voll zu spendieren. Er fraß auch die. Das wunderte uns ein wenig.

Beim gestrigen Morgenspaziergang lief er, weil von der Leine frei,  gemächlich, eher gelangweilt auf eine hübsche Husky-Hündin zu. Etwa zehn Meter vor ihr bekam er Witterung davon, dass sie noch läufig war - was sein Tempo extrem beschleunigte. Bald balgte er sich mit ihr. Der junge Mann, welcher sie angeleint hielt, bat mich darum beide zu trennen. Sie wäre schon von einem Rüden derselben Rasse gedeckt. Meinem Kai war mein gewaltsamer Griff nach seinem Halsband absolut nicht recht. Ich musste ihn regelrecht wegzerren, wobei er furchterregend knurrte. 

Kurz vor dem Wohnhaus nötigte mich eine leicht verschneite "Schlitterbahn" zu einer Pirouette, wie sie beim Eiskunstlauf gezeigt wird und mich vor dem Sturz bewahrte. Allerdings verdrehte ich mir mein invalides Knie sehr schmerzhaft.
Unsere Verkäuferin-Freundin hatte die Situation beobachtet und mich danach gelobt. Ich sagte ihr, dass ich in dem Zusammenhang die wunderbaren Worte von Dostojewski vergessen könne: "Wehe dem, der ein Kind kränkt!" Denn die Schulkinder haben doch die Eisbahn angelegt. Sie entwaffnete mich: "Sie haben aber Augen, um die Stelle sehen und umgehen zu können - oder?" Wer Recht haben will, findet Argumente: "Wie denn abends, im Dunkeln?" "Da beweisen sie, dass sie noch nicht sklerotisch sind und die Stelle im Hirn gespeichert haben." So viel Vertrauen ehrt doch - oder?

Als Stiefsohn Pavel nach erfolgloser Unterwasserjagd in dieser Nacht heimkam, hatte er einen einzigen Flusskrebs dabei. Den warf er dem Kai vor. Es krachte und knirschte ein paar Mal - dann war der Krebs gefressen. Der zufriedene Hund trollte sich auf seinen Platz unter dem Wohnzimmertisch.
Heute zum Morgenspaziergang überraschte Kai mich. Er wartete weder auf Kommando noch Handzeichen, sondern überquerte die Fahrbahn der indem Augenblick etwa 150 m entfernten Querstraße selbständig und rennend, so dass ich um sein Leben fürchtete. Denn auf ihr war gerade der kreuzende Verkehr freigegeben worden. Als ich ihn wieder sah, war er an der Stelle, an welcher gestern die noch etwas hitzige Husky-Hündin mit ihm gespielt hatte. Ich stellte mich hinter einen Busch und schaute über den hinaus, was mein Rüde tun würde. Nach einigen "Schnupperrunden" etwa 250 m von mir entfernt schaute er in die Richtung, aus welcher er mich erwartete. Fehlanzeige. Sofort setzte er sich in Trab und lief den Weg zurück. Er hatte nach menschlichem Verständnis offensichtlich verpasst zu bemerken, wohin ich abgebogen war. Also zurück zum Ausgangspunkt. Als er mich plötzlich sah, bremste er merklich, um dann schuldbewusst mit gesenktem Kopf zunehmend langsamer zu mir heranzukommen. Bekam einen leichten Stupser hinter die Ohren und die Aufforderung, erneut umzukehren. Ich hatte meine Portion "Gehweg" noch nicht unter die Füße bekommen.

Seinen Weg versperrte ihm auf der Querstraße ein Marschrouten-Kleinbus der Linie 25. Dessen gutwilliger Fahrer hatte seine Fahrtstrecke um rund 400 m verlängert und auf der Querverbindung der Allee gehalten, um eine schwer bepackte ältere Frau aussteigen zu lassen. Sie war so etwa 200 m näher zu ihrem Ziel gebracht worden. 
Als der Kleinbus weiter fuhr, sahen Kai und ich gleichzeitig, wie die angeleinte Husky-Hündin von gestern die Allee zum Mittelstreifen hin überquerte. Der Rüde spurtete wie ein Weltmeister zu ihr hin. Sie war aber inzwischen so "abgekühlt", dass sie zwar mit dem Verehrer tanzte (beide Hunde hielten sich im Stand so, dass sie sich mit den Vorderpfoten umarmten), ließ ihn jedoch nicht hinter sich geraten. Der junge Mann scheuchte Kai mit einer Geste, ich pfiff gleichzeitig. Als der Hund zu mir sah, zeigte ich ihm meine "Zu mir!"-Geste. Er befolgte die sofort. Also doch wieder gehorsam ohne Einschränkungen. Und dazu ausreichend intelligent. Für Herrchen ein positiver Eindruck. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




Nur Kleinigkeiten?

Es begann damit, dass meine Frau im Morgenrock nach unserer mit dem Hund Rückkehr von Spaziergang mich nachdrücklich bat, doch zum Basar zu gehen. Sie hätte Appetit auf Bigosch, wie meine Mutti das Kohlgericht nannte, welches Großmutter so extrem schmackhaft zubereitete. Diese war aus dem Stamm der Kaschuben, welche heute ähnlich wie die Sorben etwa in Deutschland, als polnische Bürger dort leben. 

Der Auftrag gefiel mir. Weil Natascha mir dazu auch noch großzügig 200 Hrywna in einem Schein ausreichte (etwas über zehn Euro), ging ich zu Olgas Kiosk und kaufte eine Flasche Bier - zum Mitnehmen auf dem Rückweg. Vor allem aber, um kleinere Scheine zu haben, damit ich bei den Händlern auf dem Rynok nicht warten muss, bis dort jemand wechseln konnte. 
Olga fragte, ob ich das Risiko einer Vorkasse nicht fürchte. "Wie das?" "Wenn mich plötzlich die Sklerose anfällt und ich nicht mehr weiß, dass sie noch ein Bier zu bekommen haben!" Wir lachten beide herzlich über den anderen Erwachsenen vielleicht nicht so lustig vorkommenden Scherz. 
Aber wie hat unser klassischer Dichter Gotthold E. Lessing schon vor rund 250 Jahren geschrieben: "Lese jeden Tag etwas, was sonst niemand liest. Denke jeden Tag etwas, was sonst niemand denkt. Tue jeden Tag etwas, was sonst niemandem albern genug wäre, zu tun. Es ist schlecht für den Geist, andauernd Teil der Einmütigkeit zu sein.“

Auf dem Basar bekam ich als erstes einen Witz zu hören, den ich seiner Wetter-Aktualität wegen weitergeben will. Anmerkung: hier wird akute Erkältung mit ORS abgekürzt - ich taufe sie um auf ZFA. Kommt ein Mann bei diesem Wechselwetter zwischen Spätherbst und Winter zum Arzt. Ihm tue alles und überall weh. "Sie rauchen?" "Abgewöhnt!" "Sie trinken viel Alkohol?" "Hab ich mir abgewöhnt!" "Und mit den Frauen...?" "Vor langem abgewöhnt!" Der Arzt schreibt in Großbuchstaben die Diagnose auf ein Rezept. Der Mann: "Was soll das - ZFA?" "Zu früh abgewöhnt."

Die Tatsache, dass der von Natascha über mich bestellte Schmand um 40 % teurer geworden ist, hat mit der Tragezeit der Rinder, folglich verringertem Angebot und der allgemeinen Teuerung zu tun. Auch die Räucherrippchen für den Bigosch sind 20 % teurer geworden. Wie vieles andere an den Ständen. Der Basar regelrecht verödet, weil die Kaufkraft der hauptsächlichen Käufer mit schmalen Renten durch die letzten ökonomischen Entscheidungen im Lande stark gelitten hat.

Während ich den Bigosch zubereitete, plötzlich ein lauter Schrei von Natascha aus dem Zimmer. Ich eilte besorgt zu ihr. Sie deutete auf den Fernseher. "Dein Lieblingslied!" Ohne zu fragen, was da lief, hörte ich von einem Mädchen gesungen das mecklenburgische Volkslied "Dat du min Lövsten bist". Letztmalig hörte Natascha die Melodie vor etwa 16 Jahren im ukrainischen sogenannten "Soldatensender", dessen Reporterinnen mich auf einer Nutzfahrzeugmesse interviewt hatten. Auf ihre Frage nach meiner Kindheit lobte ich unsere Mutti, welche mit uns vier Jungen an den Abenden ohne Radio und Fernsehen nach dem Krieg 1945 Volkslieder gesungen hatte. Auf die Bitte der beiden hin sang ich das Lied a-capella. Es wurde auch gesendet und viele unserer Freunde und Bekannten lobten später meinen "Mut" sowie meine Stimme. Natürlich freute ich mich, dass meine Gute das nicht vergessen hatte.

Als Letztes im Freudenbecher bis heute Mittag ein e-Mail von meinem ältesten Freund. Er hatte den ihm vor langem mitgebrachten ukrainischen Wodka mit Honig und einer Paprikaschote darin gemeinsam mit einem Seemann von Großer Fahrt probiert. Beide waren voll des Lobes und dankten herzlich für den Genuss.

Über das alles zu berichten macht auch Spass - vor allem dann, wenn Kommentare kommen.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger  




Etwas Ärgerliches - zum Lachen...

Wir wußten seit langem, dass meine Frau ein neues Visum beantragen muss. Um sicher zu sein, dass wir die erforderlichen Dokumente in richtiger Form und Menge zusammenbrachten, rief ich die Website der deutschen Botschaft in Kiew auf und lud die neuesten Handreichungen herunter. Darunter auch der Hinweis, dass man Termine bei einem Dienstleister bekommen könne, welcher die Dokumente annimmt, bearbeitet und weiterreicht. Wo man sogar die Auslieferung des Passes mit frischem Visum nach Hause bestellen und bezahlen könne. Visaantrag in der Visastelle der Botschaft einzureichen sei möglich. 
Der Terminkalender dort war voll bis zum 2. Januar 2015. Schon diese Auskunft brachte meine Natascha ins Grübeln - was meine Fähigkeiten anbetrifft. Dann solle ich es eben im Visazentrum Kiew versuchen. 
Ein Ehemann will gewöhnlich Streit vermeiden. Also tat ich wie gewünscht. An meine elektronische Adresse kam die Anweisung zum Handeln - ein Passwort einschließlich. Die anschließende Eingabe der erwähnten e-mail-Adresse von Hand und Passwort per "copy and paste" ergab die Meldung "Elektronische Adresse inkorrekt".
Nun bringe ich die e-mail-Adresse nachts mit verbundenen Augen auf den Bildschirm. Also war ich doch schon sehr verwundert. Denn bei Zusendung der Anweisung hatte ja alles geklappt. Also beides mit "copy and paste" eingetragen. Erneut "Elektronische Adresse inkorrekt". Nach dem vierten Versuch gab ich auf. 

Heute Vormittag erneuter Ansatz - keine Änderung. Wir riefen im Visazentrum an. Die junge Frau erklärte, dass das Passwort ebenfalls von Hand einzutragen sei. Das taten wir dann auch. Wieder Fehler! Natascha legte mit Hand an - erneut inkorrekt. Sie begann, mich, den Laptop und das Visazentrum mit hier lieber nicht zitierter Kritik zu überhäufen. Männer wissen, was ich meine. Frauen auch, wenn sie etwas nachdenken.
Plötzlich stockte sie. Denn sie hatte eine Variante entdeckt, als ich zum Vergleich einige Buchstaben eintippte. "Kann das, was du als kleines "l" liest, vielleicht ein großes "I" sein, dass wir wegen der geringen Größe auf dem Bildschirm nicht unterscheiden können?" Wir machten die Probe. Hurra! Der Rest war einfacher. Wir haben den Termin.

Dem Dienstleister schrieb ich in Deutsch einen Brief. Um auszuschließen, dass sich andere abquälen. Auf das Ausfüllen der Felder für das Einloggen per Hand sollte man hinweisen und vielleicht nur die beiden verwechselbaren Buchstaben aus den Passwortkombinationen herausnehmen. Am Nachmittag schon bekam ich eine sehr lange Antwort in Ukrainisch. Obwohl um Anregungen in Deutsch gebeten worden war. Wenn Natascha später kommt, wird sie übersetzen, denn die Sprache beherrsche ich noch nicht.

Gelacht haben wir dennoch. Mit dem Lachen verschwand der änfängliche Ärger. Denn wir waren an unserem Mißgeschick doch nicht schuld.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




 

Unsichtbares...

Es wird von vielen behauptet, dass ab einem gewissen Alter die Fähigkeit, mit anderen Menschen bekannt zu werden und gar noch Freundschaften zu schließen abnimmt. Folglich gehöre ich zu dem geringen Rest. welcher das noch kann. Aber erst zu etwas Zurückliegendem. 
Da in der letzten Zeit bei uns in B. Z. nach zwei Frostnächten sehr trockenes Herbstwetter begann, hatten unsere Straßenfegerinnen längs der Allee, auf welcher wir mit Hund Kai drei Mal täglich spazieren gehen, recht hohe Laubhaufen zusammengekehrt. Am besagten Morgen kamen wir fast gleichzeitig an einem solchen Berg vorbei, in dessen Nähe unser Hund mit hoch erhobenem Fang intensiv zu wittern begann. Dann lief er auf das Laub zu und begann, an zwei nach meiner Meinung Astspitzen zu schnuppern. Widerwillig langsam erhob sich ein anderer, schläfriger herrenloser Hund aus seinem Nachtlager. Er hatte sich ganz in die "Höhle" eingewühlt. Als er den Täter erkannt hatte, kläffte er kurz und unwillig, meine ich. Da sprangen um meinen Bello herum noch zwei andere "Schlafgäste" aus dem Laubbett. Was der anscheinend überraschte Kai mit feigem Weglaufen in meine Richtung quittierte.

Am Folgetag sah ich erneut unseren "Kanadier". Einen Ukrainer, der gewöhnlich in Kanada lebt, einmaligen jährlichen Urlaub in der Heimat immer mit der hier wesentlich preiswerteren Sanierung seiner Zähne verbindet. Bei + 2 Grad Celsius nur in Turnhose und barfuß, rief er mir sein stark akzentuiertes "Guten Morgen!" laut über den Fluss hinweg zu. Ich antwortete ihm auf ukrainisch - die passende Redewendung habe ich schon lange erlernt. Mit diesem Mann verbindet mich die von außen unsichtbare Begeisterung für aktive Gesundheitsvorsorge - für das Abhärten. Er hatte mich beim Gemeinsam abhaerten gesehen und seither sind wir sehr gute Bekannte. 

Als wir gestern mit meinen neuen Freunden seit etwas über einem Jahr auf ihrer Datsche am Steilufer von Odessa waren, fotografierte Dirk sehr häufig. Der in Nähe des Gebäudes zufällig stehende Verwalter der Gartenanlage hatte aus meiner zweisprachig geführten Unterhaltung seine Schlüsse gezogen. Er begrüßte mich höflich, stellte sich kultiviert mit Vor- und Vatersnamen vor und fragte, weshalb der ihm schon bekannte Deutsche fast unablässig fotografiere. Ich konnte ihm Dirks Leidenschaft für Fotografieren und jahreszeitlich unterschiedliche Motive an gleichen Orten doch plausibel machen. Wir haben uns noch etwa zehn Minuten sehr angeregt und sachlich zur Gartenanlage ausgetauscht, die auf einem Gelände errichtet wurde, als das noch nach dem von deutschen Siedlern geprägten "Lustdorf" hieß.
Den Abschluss des Tages bildete die Bekanntschaft mit Dirks Schwiegermutter. Eine Augenärztin mit internationaler Erfahrung und sehr ausgeprägtem Charakter. Mit mir etwa gleichalterig. Als wir uns nach gemeinsamen Mittagessen unserer Vierergruppe voneinander verabschiedeten, hatte ich ein sehr gutes Gefühl.  

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 






 t. F