Investition in Freundlichkeit


             Am Vorabend hatte ich erfahren, dass die Eigentümerin des kleinen, aber feinen Hotels am gestrigen Tag Geburtstag hatte. Wir beschlossen, uns wie Kavaliere zu verhalten und ihr mit einem Blumenstrauß in den Händen zu gratulieren. Will ich den Erfolg dieser Investition beschreiben, nenne ich hier den Preis für die ganz in der Nähe erworbenen Blumen: etwa 10 € oder 100 Hrywna, die Landeswährung.
             Wir kamen – noch arbeitsmäßig gekleidet, die Kollegen im Blaumann, von ihrer energischen Tochter geleitet sofort vor die Jubilarin. Die versammelte Gesellschaft erstarrte regelrecht – wir waren ja unbekannt. Wegen meines leichten Akzents bei den Glückwünschen hielt man mich für einen Jugoslawen – wie ich später erfuhr. Der öffentliche Abschluss der Zeremonie – drei Küsschen des Geburtstagskindes auf jeden von uns und die Einladung zum Abendessen im nebenan gelegenen Restaurant mit allem, was die Tafel hergab. Zu deutsch: auf Kosten des Hauses.
                                                                                                                                                                                                                    
Weil unsere Kollegen den ganzen Tag körperlich angestrengt gearbeitet hatten, erbaten wir uns Zeit für das Duschen und Umziehen. Anschließend nahmen wir an den für uns gedeckten kleinen Tisch Platz. Sofort eilte ein Kellner herbei, unsere Gläschen mit Wodka zu füllen. Da wir im Sichtbereich der Hausherrin saßen, erhoben wir uns und tranken ihr zu sowie aus – noch ohne etwas gegessen zu haben. Der Effekt leichter sofortiger Benommenheit sollte dem Leser bekannt sein. Wenn sie/er nicht Antialkoholiker ist.
In der Mitte des Tisches prangten drei Weißbrotscheiben mit rotem Kaviar, ansonsten waren unterschiedliche Fleisch- und Wurstwaren auf einem großen Teller mit Garnierung angerichtet, ebenso einer dieser Größe mit Radieschen, Cherrytomaten, allerlei Kräutern nach ukrainischer Manier und bunter geschnittener Paprika. Dazu Teller mit Besteck und Gläschen sowie Gläser für Getränke. Dazu der Brotkorb mit leckerem Schwarz- und Weißbrot.
Während wir aßen, bekamen wir an unserem Tisch Besuch anderer Gäste, welche sich davon überzeugen wollten, ob wir wirklich Deutsche sind oder mit uns einfach nur auf die Gesundheit der Dame des Hauses anzustoßen.  
Der Abend verging wie im Fluge – für meine Kollegen besonders interessant, weil sie mit dem Brauchtum nicht so vertraut sind. Als gegen 23 Uhr unser Kollege Elektroniker ankam – er war nach Donezk geflogen und von dort geholt worden – fand sich für ihn auch nicht nur ein Platz an unserem Tisch, sondern auch noch genug nett Serviertes gegen seinen Hunger und Durst.

Wenn wir den Abend rein rechnerisch sehen – für die Investition von 100 Hrywna hatte wir zu viert mindestens für 1000 Hrywna gegessen und getrunken. Also betriebswirtschaftlich ungeheuer profitabel.
Aber meine Kollegen haben mit mir einen anderen Ansatz diskutiert. Nämlich die Merkmale und aus denen folgende Ergebnisse von nachbarlich-freundschaftlichem Umgang miteinander, Höflichkeit, Aufmerksamkeit und ungeahnter ukrainischer Gastlichkeit, besser als Gastfreundschaft zu bezeichnen. Sie sagten mir, dass dieser Abend für sie lange in Erinnerung bleiben würde.
Mir blieb nur hinzuzufügen, weshalb nach Auffassung eines Kenners der slawischen Gebräuche, meines Freundes Viktor Wassiljewitsch, die Gastfreundschaft bei ihnen so entwickelt ist. Seit Urzeiten waren die Slawen in erster Linie Hirtenvölker. Neuigkeiten für sie brachten die seltenen Gäste. Deshalb wurde alles unternommen, diese Ankömmlinge gesprächig zu machen und lange bei sich zu behalten. Genial einfach als Taktik und als Argument.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




                                                                                                                                                                                                               

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