Nach dem Sonntagsspaziergang


Eigentlich hatten wir, um Zeit zu gewinnen, am Sonntag wenigstens sechs Stunden arbeiten wollen. Die zusätzliche Montage einer Baugruppe an eine bereits in Betrieb gegangene Maschine ist extrem zeitaufwendig. Allerdings konnte der Auftraggeber aus innerbetrieblichen Gründen unserem Wunsch nicht nachkommen. Also baten wir seine unverheiratete Sekretärin, welche einige Zeit offiziell in Deutschland gearbeitet hatte, uns die Besonderheiten ihrer Heimatstadt zu zeigen. Etwas verschämt meinte Julia, sie habe einen Haushalt – sie lebe mit einem Lebensgefährten zusammen. Bei ihnen wäre das Wochenende schon verplant. Also war der Ball wieder bei mir.
                Deshalb gingen wir drei am Sonntag nach dem relativ spät eingenommenen Frühstück zum Zentralmarkt. Auf einer Parkallee in seiner unmittelbaren Nähe war „Vogelmarkt“ – die Bezeichnung für privat eingerichtete zeitweilige „Verkaufsstände“, an denen allerlei junge Haustiere – vorwiegend Hunde und Katzen – verkauft werden. Ab und an auch Jungvögel.
            Dort saß zu meinem Erstaunen Xenia, ihre kleinen Kätzchen anbietend. Wir begrüßten uns freundschaftlich – von meinen Kollegen erst einmal etwas befremdet registriert. Als sie ihnen auch die Hand reichte – hier ein Vorrecht der Frauen, das ich meinen Mitstreitern schon erläutert hatte – waren sie angenehm überrascht.
                An einem Obststand wurde ich von den beiden Verkäuferinnen – Schwestern – wie ein lieber Freund begrüßt, da ich bei ihnen zu jedem Besuch in Lugansk immer meine täglich zu verzehrenden Äpfel kaufte. Erneut eine erstaunte Reaktion der beiden Herren.
               Endgültig kamen die Männer zu der Auffassung, dass ich ein unverbesserlicher „Weiberheld“ sei, als im Fischpavillon eine Verkäuferin mit mir ein freundschaftliches Gespräch begann mit dem Hinweis darauf, dass sie wieder so schmackhaften Räucherfisch im Angebot hätte, von dem ich beim vorigen Besuch ein Stück gekauft hätte.
                Die an orientalische Basare erinnernde unangenehme Enge zwischen den Verkaufsständen, die eintönige Vielfältigkeit des Angebots, das intensive Aushandeln von Preisen – alles in Deutschland nicht so zu beobachten. Aber auch die offensichtlich damit verbundenen Probleme jener, die häufig apathisch in ihren Ständen standen oder saßen, ließ bei meinen Kollegen Fragen aufkommen.

                Auf dem Rückweg sahen wir am „Lugansker Handelshaus“ sehr gut aufgemacht Bilder zur Lugansker Geschichte, dazu die Vergrößerung aus einer Anordnung von Zarin Katharina II. von 1795 zur Gründung einer Eisengießerei am Fluss Lugan mit Schaffung einer Siedlung daselbst. Die Begründung: in der Nähe waren Steinkohlevorkommen und Lagerstätten von Roteisenerz entdeckt und Gruben in Betrieb genommen worden.

                Nach einem bescheidenen, wohlschmeckenden und für meine Kollegen erstaunlich preiswerten Mittagessen in einem äußerlich unscheinbaren Restaurant ging es ins Hotel zurück. Am Nachmittag baten sie mich, mit ihnen doch einen Spaziergang durch die nähere Umgebung zu machen, welche geprägt ist durch mehr oder weniger erhaltene Einfamilienhäuser (so genannter „Privatsektor“). Mein Einwand, dass dort nichts architektonisch Bemerkenswertes zu erwarten wäre, wurde abgeblockt: wir wollen einen Eindruck davon bekommen, wie die Menschen hier in ihrem Alltag leben. Diese Eindrücke waren vielschichtig – darunter die von den Mauern des hiesigen Untersuchungsgefängnisses. Fazit: es sind neben den Abrissobjekten solche zu sehen, die davon zeugen, dass die Bewohner in sinnvolle Reparatur und auch äußeres Aussehen investiert haben – der Schritt voraus ist zu erkennen.

                Am Montag die Arbeit am Vorhaben und der Beweis für die Findigkeit unserer ukrainischen Partner. Montierte Maschinen sind in ihren äußeren Konturen nicht unbedingt genormt. Also ist das Anheften von Blechschablonen für maßgerechte Bohrungen nicht einfach. Herkömmliche Zwingen waren zu klein. Aber man hatte von den ukrainischen Mitarbeitern den Sinn erfasst und auf eine verblüffend einfache Art „Hilfszwingen“ gebastelt, welche ihren Zweck ordentlich erfüllten. Für mich war erneut deutlich, wie helle Köpfe und geschickte, an Arbeit erfolgreich trainierte Hände die technischen Wunder vollbringen, auf denen moderne Produktion beruht. Durch welche Produkte entstehen, die von deren Verbrauchern nicht selten ohne Achtung vor der darin steckenden fachlichen, also intellektuellen und körperlichen Leistung genutzt werden.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger







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