Brief 2 an uns alle ...

Sonja Schatalowa wohnt bei Moskau. Sie ist ein autistischer Mensch, das bedeutet in ihrem Fall, dass sie nicht sprechen kann, nur monoton-einförmige Bewegungen auszuführen in der Lage ist, bei Kontakt mit ihr reagiert sie gewöhnlich nicht, ist völlig weltfern und nicht kontaktfähig.  

Die ärztliche Diagnose für das Mädchen war:
„Tiefstgehende Intelligenzminderung“.

Das ging so bis zum siebenten Lebensjahr. Dann „geschah ein Wunder“, wie ihre Mutter Ewgenija der Zeitschrift „Argumente und Fakten“ erzählte. „Ich sollte mit Sonjas Hand etwas unter Bilder schreiben. Aber Sonja hielt meine Bewegung auf und begann selbst zu schreiben. Ich habe ihr lediglich geholfen, den Kugelschreiber zu halten. Mit der Zeit konnten wir bei unserer Tochter eine angeborene Schreibfähigkeit feststellen.“
Ja, es stellte sich heraus, dass Sonja sowohl lesen als auch schreiben kann, sie ist absolut gebildet, hat ein geradezu fotografisches Gedächtnis und unbegreifliche Erkenntnisse von  unserer Welt.     

Einige Ärzte haben das lange nicht für wahr haben wollen.
Es ist schon schwierig, in einem Kind, welches nur unverständliche Laute von sich geben kann, stundenlang schreit, das nicht einmal einen Löffel selbständig zum Mund führen kann, etwas Verstandsbegabtes zu sehen.

Wenn Sie allerdings das lesen, was Sonja mit ihrer Kinderschrift schreibt, dann werden sie verstehen, dass wir wahrscheinlich kaum wirklich etwas über Vernunft, über Verstand wissen.

Sonja hat schon einiges geschrieben: Gedichte, Märchen, Tagebücher, Aphorismen. Und über jede Zeile darin lässt sich nachdenken, nachsinnen.

Hier nur eine Niederschrift ihrer Aufzeichnungen nach dem Besuch mit Übung im Delphinarium:
„ …heute bin ich mit Wach ohne den Papa geschwommen. Wachlein hat mich beruhigt und gesagt, dass ich so ähnlich bin wie ein kleines Delfin-Mädchen, dass ich einen Schwanz und Flossen habe und in Harmonie mit dem Wasser bin. Das war bildlich gesprochen. Auch hat er vom freien Lauf des Willens gesprochen, dass man den nicht zwingen soll, sondern ihn nur in die notwendige Richtung zu lenken braucht. Und die Richtung – nun, dass heißt dem Schöpfer zu lauschen, dort findet sich immer das Gefühl für Harmonie. Jedoch waren das keine Gedankenspiele – das verstand ich, während ich schwamm. Wachusja hat dreimal Fische von mir angenommen. … Ich muss noch viel darüber nachdenken, vor allem über die freie Bewegung des Willens. Die Delfine sind deshalb so harmonisch, weil ihr Willen ständig zum Schöpfer strebt.“

Das ist wohl deutlich die Nichtübereinstimmung des Äußeren mit dem Inneren … 

Soweit die im Interesse einer sinngemäßen Übertragung leicht bearbeiteten Worte der russischen Journalistin.

Hier im Weiteren zitiere ich einige von Sonjas Aphorismen, die sie im Alter zwischen 8 und 10 Jahren verfasste.

Ein Schmetterling  – ist das hauptsächliche Merkmal sommerlichen Glücks.
Wind – das ist Luft, welche die Ruhe nicht mag.
Kindheit – der Sonnenaufgang des Schicksals im Menschenleben.
Die Seele – eine Leere im Menschen, die er mit Gott füllt oder mit dem Satan.
Bekanntschaft – das Treffen verschiedener Weltsichten oder gar verschiedener Welten.
Improvisation  – sie ist das Spiel der Vorstellung mit Worten, Tönen, Farben, um rasch etwas Neues zu schaffen.
Ein Buch – eine Sache, in welcher Wissen und Fühlen der Menschen über Zeiten bewahrt werden können. Die Möglichkeit, über die Zeiten hinaus mit vielen Menschen zu sprechen.
Die Katze – ein Symbol behaglicher Unabhängigkeit.
Das Pferd – ist großes warmes vierhufiges Glück.
Ein Hund – die bellende Verkörperung für Treue und Gehorsam.
Eine Neuheit – ist jene Erscheinung, welche beim Treffen mit dir deine Welt reicher macht.
Die Nacht – ist ein schwarzer Schirm mit Sternen drauf.
Überwindung – das ist die seelische Anstrengung, in deren Ergebnis Körper und Geist beliebige Hindernisse überwinden.
Ein Abenteuer – das ist eine ungewöhnliche Erscheinung, welche auf irgendeine Weise deine Welt und dich verändert.
Romantik – das ist jene Stimmung, die dir in allem Gewöhnlichen das Wunder zeigt.
Das Märchen – ein Leben, ausgedacht von der Seele, wenn ihr das reale Sein nicht behagt. 
Klammern –Wände für Wörter in schriftlicher Rede.
Lachen – der Arzt für die traurige Seele
Eine Spirale – die im Tanz erstarrte Gerade.
Die Kugel – das ist ein Würfel ohne Ecken und Kanten.
Der Hurrikan – ein irrsinnig gewordener Wind.
Die Fantasie – ist das Gewebe zum Schmuck seelischer Existenz.

Ein Mensch – das ist ein Lebewesen, das Verstand besitzt, Sprache, geschickte Hände und die Fähigkeit zu entscheiden, wie es das alles benutzen wird.

Die Psychologen nennen diese bei Sonja zu bemerkende Erscheinung „Inselbegabung“. Manche Autisten besitzen auf dem Gebiet ihres besonderen Interesses außergewöhnliche Fähigkeiten, zum Beispiel im Kopfrechnen, Zeichnen, in der Musik oder in der Merkfähigkeit. 50 Prozent der bekannten Inselbegabten sind Autisten. Sie können sich eventuell nicht alleine anziehen, aber komplette Telefonbücher sowie Lexika auswendig lernen und ähnliches.

Morgen werde ich den dritten Teil dieses Briefes hier posten.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger

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