Obere Etage ...

        Am vergangenen Mittwoch, am Nachmittag, gab es elektronische Post aus Deutschland. Man erwarte mich am Sonnabend früh in Lugansk. Die Bitte, für mich einen Flug ab Kiew mitzubuchen, wurde beantwortet - man sei hilflos. Weil Plätze nicht verfügbar, müssen sie über Moskau fliegen. Direkt auf einer Inlandlinie auch keine Plätze mehr - Freitag fliegen viele eben heim, außerdem ist Urlaubszeit.

        Ab zum Bahnhof. Natacha als geschicktere Verhandlungspartnerin konnte auch nur zwei Plätze in der oberen Etage heraushandeln, auf der Hinfahrt dazu ein "Seitenplatz". Alles im so genannten "Platzkartenwaggon".

        In dem Riesenland Russland, später in der UdSSR, aber auch heute noch in der Ukraine und anderen Ländern der ehemaligen SU verkehren die Züge nicht immer mit einem modernen Wagenpark, sondern nach dem Prinzip: Hauptsache ein Platz, Komfort danach. Allerdings gehört zu den Fernzügen eins immer dazu: jeder Platz ist ein Liegeplatz.

        Der Platzkartenwaggon besteht aus 8 offenen Abteilen mit je 4 Liegen, die zwei oberen sind hochklappbar. An dem langen Gang sind quer zu jedem "Abteil" zwei Sitzplätze an einem umklappbaren Tisch installiert. Darüber ein Liegeplatz. Die beiden Sitze und der nach unten umklappbare Tisch ergeben den zweiten Liegeplatz. Das sind die beiden offiziell so auch bezeichneten "Seitenplätze".

        Am Freitag gegen 10.45 Uhr fand ich meinen Sitzplatz. Nach wenigen Minuten kam ein junger Mann, der mich bat, den Liegeplatz oben gleich nutzen zu dürfen, weil er 17 Stunden nicht geschlafen habe. Auf die Frage nach dem Grund erfuhr ich, dass er aus Turin käme, Student der Elektrotechnik sei, Spezialisierung "Erneuerbare Energien". Er kam nicht gleich zum Schlafen ...

        Nachdem er ausgeruht hatte, begann ein Gespräch mit einem jungen Ukrainer - über den Gang hinweg. Der empfahl, wenn Wlad - der "Turiner" - die bautechnologische Variante der Ausbildung fortsetzen wolle, doch nach Dessau in Deutschland zu gehen - auf die "Bauhaus-Universität". Da waren die beiden auf etwas gestoßen - wir diskutierten bald gemeinsam über Mies van der Rohe und Friedensreich Hundertwasser. Der andere junge Mann war Architekt ... Beide wunderten sich darüber, womit ich vertraut war. Aber meine kurze Dienstzeit in Dessau hatte ich für Erkundungen um Thema genutzt. Die Reise nach Lugansk hatte auf diese Weise Spannung bekommen.

        Den für die meisten uninteressanten Übersetzer-Teil lasse ich heraus - auch wenn er etwas "abenteuerlich" war. Dass ich aber am nächsten Tag in einem grusinischen (georgischen) Restaurant den Verlust meines Handys bemerkte - das war schon ein Schock. Ich hatte ausgecheckt und wollte eben in Nähe der Rezeption meinen Rucksack schultern, als meine liebe Frau anrief. Den Rucksack auf die Sitzbank abgesetzt und geklärt, dass ich alt genug bin, wieder allein heimzukommen. In der besten aller Stimmungen das Handy neben mich gelegt und und den Rucksack gesattelt - dabei das Handy aus den Augen verloren ... Ab in das vorher ausgewählte Restaurant. Nach den vorzüglichen Speisen das Kännchen Tee bestellt mit dem Hinwies, es nach etwa 15 Minuten zu servieren. Auf der Suche nach dem Kleingeld die Handy-Tasche gestreift - oho! Nach fieberhafter Kontrolle aller möglicher Taschen die Erleuchtung: meine Handynummer anrufen. Es meldete sich - die Rezeption des Hotels.  Dem Kellner überließ ich meinen Rucksack und die Bitte, den Tee nach Rückkehr zu servieren. Nach einer halben Stunde war ich mit Handy wieder da, bekam meinen Tee und zahlte mit zusätzlich ordentlichem "Teegeld", wie hier das Trinkgeld genannt wird.

        Das Besetzen meines diesmal "normalen" oberen Platzes ging reibungslos. Der Vorteil der gewöhnlichen Liegeplätze gegenüber den begrenzten seitlichen - man kann lange Beine ausstrecken - die Füße ragen dann in den Gang. Wer zur Toilette will, stößt sich daran oder weicht aus. Letzteres besser für den Schläfer ...

        Die ansehnliche, aber anscheinend sehr zurückhaltende junge Frau auf der seitlichen "oberen Etage" erwies sich am anderen Morgen als "Wucht in Tüten"! Mit meinen direkten Nachbarn hatte ich geklärt, das sie zu Kindern und Enkeln nach Norwegen reisten. Auch, dass Kinder in der Ukraine deutsche Schäferhunde züchteten - was mir doch angenehm sein sollte. Ich widersprach. Meine große Hundeliebe ist der turkmenische Wolfswürger - der Alabai. Unerwartet bekam ich von Xenia - wie ich später erfuhr - Unterstützung. Einzelheiten - geschenkt. Im Verlauf der Unterhaltung meinte sie: "Sie scheinen ein Mensch zu sein, der Hunde wirklich liebt. Ich bin einen Möpsin."
        Das war unerwartet und eigenwillig. Denn ich verstand nichts. Xenia hat nach Ausbildung als Architekt mit ihrem Mann gemeinsam eine Farm von 50 Hektar bewirtschaftet, einen 5000 Quadratmeter großen Garten, dazu ein Kleinkind gehabt und eine Wirbelsäulenerkrankung .... Sie ist von der damals großen Dogge auf die viel kleineren Möpse gekommen uns hat heute einen kleinen Hundezwinger für diese Rasse.
        Auch hier lasse ich einiges aus. Wir haben einander glänzend unterhalten - bis sie eine Brille aufsetzte. Die steht ihr nicht und sie sah, dass ich etwas hatte sagen wollen. Nach Aufforderung sagte ich ihr meine Meinung. Da mischte sich der Norwegen-Reisende ein. "Sie sollten die Brille ganz lassen. Das ist doch nur eine Krücke für die Augen. Ich hatte - 8 Dioptrien, heute sehe ich wie früher ohne Brille." Wir sahen ihn etwas ungläubig an. "Laden sie sich aus dem Internet doch die 6 Lektionen von Professor Sdanow herunter - da können sie das lernen, wie sie ihre Augen nach dem System von Dr. Bates und Shitschko trainieren."
        Sofort erinnerte ich mich. Auf diese Videos hatte mich vor kurzem mein Freund Valentin aufmerksam gemacht. Allerdings hat mich bisher ein wenig mein so doch recht erfülltes Leben davon abgehalten. Das Spiel lohnt aber den Einsatz.

       Xenia und ihren Mann werde ich besuchen, wenn ich wieder in Lugansk bin. Es sind hochinteressante Persönlichkeiten.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





     

     



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